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VIC CHESNUTT
 
Der Mann, der sich nicht traut
Vic Chesnutt
Lange Zeit war es still um Vic Chesnutt (sieht man mal von dem Brute-Projekt mit Widespread Panic ab). Natürlich wäre Gaesteliste.de nicht das Magazin, das den investigativen Musikjournalismus bis an die Grenzen auslotete, wenn wir uns mit so was zufrieden geben würden. Den Versuch indes, die Aktivitäten des Meisters der rätselhaften Songkunst ausfindig zu machen, zeitigte unerwartete Ergebnisse. Als wir nämlich vor einigen Monaten Kurt Wagner, den Frontmann von Lambchop und guten Kumpel von Vic fragten, wo denn der Meister verblieben sei, bekamen wir zu hören, er arbeitete an einem Puppenspiel. Das taten wir damals noch als Übersetzungfehler ab. Als wir dann aber ein paar Wochen später David Lowery von Cracker fragten (der ja auch bei Brute mittut), meinte dieser, Vic sei halt eben nicht leicht zu durchschauen und habe soeben eine US Tournee abgebrochen - um sich seinem Puppenspiel widmen zu können. Was zum Teufel hat denn jemand, der mit Scheiben wie "Is The Actor Happy?" seinen Ruf als genialer Songwriter unserer Tage begründete, mit Kinderkram zu schaffen?
"Nun, es war mehr als ein Puppenspiel", lüftet der Meister das Geheimnis, "ich habe ein Musical gemacht, das auf einer historischen Figur, Josiah Mecks, aus meiner Heimatstadt, Athens, Georgia, basiert. Es ging um die Beziehung zu dieser historischen Figur. Ich führte es in New York auf. Es war eine Multimedia-Sache mit Schauspielern, Filmen, Marionetten und solchem Zeug. Ich habe dazu gesungen und Geschichten erzählt. Mecks war der erste Präsident der Universität von Georgia von 1801 bis 1810. Ich wurde angesprochen und gebeten das tun. Dazu bekam ich einen Fundus von einem kunsthistorischem Verein. Das war natürlich sehr verlockend und ich wollte das Thema dann auch erforschen. Ich denke zwar nicht, dass ich viele der Songs dieses Musicals auf Tour singen werde, aber ich werde einige der Erfahrungen, die ich bei Recherchen für diese Stücke anstellte, für weitere Songs in der Zukunft verwenden. Bei dieser Sache wurde mein Interesse an der Geschichte und meinem Bezug dazu geweckt. Es geht darum, dies auch mehr in die Songs einfließen zu lassen. Gelegentlich tue ich das ja bereits. Es gibt immer ein paar Bezüge zu realen Personen in meinen Stücken. Auf der neuen Scheibe, 'Silver Lake' z.B. sind dies Emily Post und Zippy Marrocco, ein amerikanischer College-Footballstar der Universität von Georgia in den 60ern, der eine real existierende Person war. Obwohl es in dem Song Zippy Marrocco nicht um diese Person geht, sondern ungefähr darum, sich selbst zu finden." Vics Art, Reales, Surreales und Angedachtes zu einer ganz eigenen Melange zu verquicken, macht es dem Hörer natürlich nicht immer leicht, in dessen songtechnische Mikrokosmen einzutauchen. Woher nimmt Vic denn seine Themen? "Wie du weißt, bekomme ich meine Inspirationen so ziemlich überall her. Ich denke über eine Menge Dinge nach - Ideen, Philosophie, Ideen für Geschichten - auch autobiographische. Manchmal benutze ich einiges aus meiner Autobiographie dazu, meine Vorstellungskraft auch in andere Gebiete wandern zu lassen [wörtlich sagt er "use it to slingshot my imagination into other areas"]. Woraus dann eine Art Fiktion entsteht. Auf der neuen Scheibe ist das verstärkt der Fall. Z.B. 'Band Camp'. Die Geschichte ist mir so nicht wirklich passiert, aber ich war in einer Marschkapelle in der High-School und ich habe Posaune gespielt." Einige der Stücke haben aber auch einen weniger konkreten Charakter und driften gar ins Assoziative ab. Vic selbst sieht das als vertonte Gedichte. Wo liegt denn für ihn der Unterschied? "Nun als ich die neuen Songs auswählte, hatte ich ungefähr 100 Stücke zur Verfügung. Ich ordnete diese dann in drei Gruppen: Story-Songs, Gedichte und Slogans. Das war der Plan. Der Unterschied ist, dass z.B. 'Band Camp' eine straighte Kurz-Geschichte erzählt, während z.B. 'Wren's Nest' offen, experimentell und assoziativ ist - ein Gedicht-Song. Diese sind schwerer zu verstehen, weil ich mit der Sprache experimentiere oder nur ganz vage Andeutungen mache." Einer der Songs auf der Scheibe heißt "Styrofoam" - Styropor. Ist der in der Tradition des Chesnutt-Songs "Ladle" - Suppenkelle zu sehen, wo es darum geht, Songs über Themen oder Dinge zu schreiben, von denen bislang niemand wusste, dass man Songs drüber schreiben kann? "Selbstverständlich" stimmt Vic zu, "beides - also Suppenkelle und Styropor - verwendete ich dabei als Metaphern in dieser seltsamen Art. Das ist die Verbindung." Gut - bis hierhin ist ja alles noch halbwegs verständlich. Dann gibt es aber einen Track namens "Sultan So Mighty" - über acht Minuten lang singt Vic hier mit Fistelstimme über einen Eunuchen, der dem Sultan bei Problemen mit den Damen behilflich ist. "Ich bin nicht wirklich sicher, woher dieser Song kommt", gibt Vic zu, "ich weiß nicht genau, warum ich diesen Song geschrieben habe. Es ist ja schon ein interessantes Thema. Es ist aber nicht so, dass ich mich da reingelesen habe oder sowas. Der Song entstand ziemlich schnell - er fiel plötzlich raus, wie man sagt, er passierte von selber."
Vic Chesnutt
Auch musikalisch ist die neue Scheibe ein gewissermaßen seltsames Abenteuer. Die Scheibe wurde live im Studio eingespielt. Doch nicht nur das. "Wir haben nicht geprobt", erzählt Vic, "wir haben die Sachen folgendermaßen aufgenommen: Nachdem die Band zusammengekommen war, haben wir den Song einmal im Trockendurchlauf gespielt und dann zwei, drei Versionen live aufgenommen. Einen Song vormittags, einen anderen am Abend. Ich habe bei allen Aufnahmen gesungen. Manche dieser Stimmen habe ich so gelassen, andere musste ich beim Mixen neu aufnehmen oder aber ich habe die original Vocals gedoppelt. Alle Songs wurden zusammen in einem großen Raum aufgenommen." Einen großen Anteil am Prozedere hatte Produzent Mark Howard, in dessen Hände Vic sich dieses Mal begab. Er war es, der die Band zusammenstellte und seine Idee war es auch, die Songs gleich vor Ort abzumischen. "Das ist eine sehr organische Sache", erinnert sich Vic, "wir wollten die Sachen nicht zu lange durchdenken. Es passierte ziemlich schnell, innerhalb von zwei Wochen. Es war eine sehr natürliche Angelegenheit. Wir haben mit dem Herzen gefühlt und mit den Ohren gehört. Das ist alles. Ich habe das sehr genossen. Ich habe alle sehr gerne gemocht, den Produzenten und die Band. Ich denke, so was werde ich nochmal machen. Aber ich mag auch die 'normale' Art aufzunehmen. Ich will halt alles mal ausprobieren." Ist es denn sinnvoll, sich so komplett auf einen Produzenten zu verlassen? "Nun, Mark hat ja mit Gott und der Welt zusammengearbeitet - von Bob Dylan bis zu Daniel Lanois, dessen Engineer er war. Ich denke, dass ich sofort erkannte, dass er wusste, was er tat. Also vertraute ich ihm. Es ist nur so, dass ich manchmal mir selbst nicht vertraue. Deshalb vertraue ich lieber anderen Menschen." Was ist denn der wichtigste Aspekt für Vic bei der neuen Scheibe? "Hm. Das ist eine gute Frage", überlegt er - ziemlich lange, "es ist schwer zu sagen. Die Auswahl der Songs waren dieses Mal sehr wichtig. Mit der Band zu spielen war wichtig. Der Ort, wo es aufgenommen wurde. Es war eine alte Villa in Hollywood. Nach diesem ehemaligen Heim eines Hollywood Stars habe ich die Scheibe auch 'Silver Lake' genannt. Es ist sozusagen eine Momentaufnahme dieser Periode von zwei Wochen in 2002, die ich einfangen wollte." Eine Zeitkapsel? "Ja, absolut." Was passierte denn mit den 90 Songs, die NICHT auf die Scheibe gelangte? Kommen die auf eine neue CD? "Ich hoffe schon", meint Vic, "ich habe aber auch schon wieder neue Songs geschrieben. Ich schreibe nämlich dauernd neue Songs. Ich fürchte also, ich muss eine neue Scheibe machen." Eine Vic Chesnutt-Tour wird es im September geben. Vorab wird er allerdings auf dem legendären Orange Blossom Festival in Beverungen spielen. Wir sind alle schon mal gespannt, was sich die Organisatoren vor Ort einfallen haben lassen, um Vic und sein Gefährt technisch auf die Bühne zu bekommen...
Weitere Infos:
vicchesnutt.cupantae.com
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Vic Chesnutt
Aktueller Tonträger:
Silver Lake
(Blue Rose Records/Sony Music)

 
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