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Interview-Archiv

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JACKIE LEVEN
 
Der Tod der Träume
Jackie Leven
Was haben Rainer Maria Rilke und Pere Ubu gemeinsam? David Thomas. So oder ähnlich sollte man besser denken, wenn man sich mit Jackie Levens ständig expandierendem Universum aus Poesie und Musik auseinandersetzt. Jackies stetiges Bemühen, die beiden Kunstformen inhaltlich und formal zusammenzuführen, führt auf seiner neuen Scheibe, "Shining Brother Shining Sister" dann eben auch zu solchen Blüten - dass nämlich David Thomas ein Gedicht des besagten Rilke vorträgt. Das erstaunliche dabei ist eigentlich dann wieder, dass die Sache nicht nur funktioniert, sondern sogar vollkommen logisch und selbstverständlich erscheint. "Das hängt mit der Auswahl zusammen", verrät uns Jackie, "man muss sehr vorsichtig sein, wem man was gibt, denn es können ganz schön peinliche Sachen dabei herauskommen. Nimm zum Beispiel den Beitrag von Ron Sexsmith (ein Gedicht von E E Cummings - ausgerechnet am Ende des Songs 'My Philosophy' vorgetragen). Das hätte leicht schief gehen können, weil das doch ein Gedicht ist, das leicht peinlich wirken könnte. Ich habe Ron erst kürzlich kennen und schätzen gelernt und bewundere seine Art mit wenigen Worten viel zu sagen. Er hätte ja ohne weiteres ablehnen können, aber er sagte, er würde es tun, weil er das Gedicht wundervoll fände. Ich glaube, deshalb funktioniert es auch."
Auf "Brother..." finden sich auch erstmals so viele Gaststars (darunter auch die ehemaligen Doll By Doll Kollegen), dass Jackie dies auf dem Cover entsprechend vermerkt. Man möchte es ja kaum vermuten, dass ein Songwriter mit dem Background eines Jackie Leven überhaupt noch anderer Leute Mitarbeit (sei es aktiv, oder - wie bei den Poeten - zum Teil passiv, benötigt). Themen hat der Mann schließlich genug. Seien es Referenzen auf seine düstere Vergangenheit ("My Philiosophy"), musikalische Portraits wenig offensichtlicher Charaktere (wie beispielsweise des Drogendealers Dusty in "Heroin Dealer Blues"), eine Hymne an von ihm geliebte Orte (und Bars - die er in den Credits auflistet) in "Classic Northern Diversions" oder - und das ist neu - die Dramatisierung von durchlebten Träumen ("Savannah Waltz"). Aber bei Jackie Leven hatte man ja stets schon den Verdacht, dass er weniger ein bloßer Songwriter, sondern mehr so etwas wie ein chamäleonartiges, lebendes Gesamtkunstwerk ist, das seine Tentakel in alle möglichen Ausdrucksformen gräbt - vom Geschichtenerzähler über den tragischen Helden bis hin zum philosophierenden Clown ist alles denkbar. Bleiben wir doch gerade mal bei dem Thema "Traum" - was genau hat Jackie denn hier gemacht? "Ich hatte eine Serie von sehr kraftvollen, kinematischen Träumen, in denen es um diese sehr alte farbige Frau ging, die still auf einem Stuhl in diesem alten Haus saß. Sie strahlte diese phantastische Würde aus. In dem Traum ging es darum, dass sie wusste, dass sie sterben müsse und sie schien dieses Vertrauen zu haben, dass zu diesem Zeitpunkt eine Art männlicher Engel kommen würde und sie seine Schritte hören würde und er sie dann erlösen würde", fabuliert Jackie, "ich wachte auf und fürchtete mich davor, diesen Traum noch mal zu haben - nicht, weil er so schlecht, sondern weil er so kraftvoll war und es mich jeweils eine Woche kostete, mich davon zu erholen. Ich mochte aber, wie die Frau über die Situation dachte. Ich habe Freunde, die in der Psychologie arbeiten und jede Menge Erklärungen hatten. Aber ich denke, dass man manchmal Träume nicht weiter erklären sollte, weil das gefährlich werden kann." Woher kommen denn Träume wie dieser? Jackie lacht und bedankt sich für diese Gelegenheit seine Ideen darlegen zu können. "Woher kommen Träume? Ich denke, dass ich sagen würde, dass die Traumwelt für uns im Westen eine verlorene Welt ist. Ich mag mich da irren, aber ich denke dass die Respektlosigkeit gegenüber oder die fehlende Beachtung von Träumen eine der traurigsten Sachen im Westen ist. Das Träumen in Amerika scheint mit Martin Luther King aufgehört zu haben. Er hatte einen Traum und wurde deshalb ermordet. Es ist deswegen tragisch, weil meiner Meinung nach das Traumleben genauso wichtig ist wie das wache Leben. Und noch was: Wenn du dir frühe Ausgaben der Bibel anschaust, wirst du feststellen, dass es dort viel um Träume ging, die in neueren Ausgaben herausgenommen wurden." Wenn Träume so wichtig sind, was ist denn - Jackies Meinung nach - deren Zweck? "Was - meiner Meinung nach - Träume von dir wollen, ist dass du dich in einer Art von Bewusstsein und Verstehen über den Sinn deines Lebens bewegst. Ich denke nämlich, dass eine Menge dieser Unzufriedenheit, die wir im Leben verspüren daher rührt, dass wir keine Empfänglichkeit für die prophetische Kraft von Träumen haben. Wenn man aber zu stark darüber nachdenkt, kann das auch deprimierend und gefährlich sein. Man muss da eine gewisse Balance wahren."
Jackie Leven
Es mag sich ja ein wenig seltsam anhören, aber irgendwie beschreibt dieses Selbstverständnis einen gewissen Teil von Jackies Songs. Diese sind ja zuweilen recht lamentös, haben dann aber auch wieder einen optimistischen Unterton - besonders auf der neuen Scheibe. "Ja, das stimme ich zu", meint Jackie, "weil um die Leute herum, denen es schlecht geht, auch gute und schöne Dinge passieren. Ich mag die Leute auf der Scheibe, weil sie - auch wenn sie eine unangenehme Persönlichkeit haben - doch ein gutes Herz haben." Etwa wie Dusty, der Heroin-Dealer? Es ist ja schon ziemlich ungewöhnlich einen Song über einen Dealer zu machen. "Weißt du, ich suche mir die Leute nicht aus, über die ich schreibe", erklärt Jackie, "es ist eher so, dass sie mich finden. Ich setze mich nicht hin und überlege mir einen Song über einen schottischen Dealer zu schreiben, der eine blöde Vorstellung davon hat, wie sein Leben weiter geht obwohl ich genau weiß, dass dem nicht so sein wird. Es ist ähnlich wie bei den Traum-Sachen, über die wir gerade gesprochen haben: Irgendwie wird mir gesagt, dass ich diesen Song schreiben solle. Es ist wohl auch immer über einen bestimmten, verarmten Teil meiner selbst. Ich hoffe, dass das auch anderen Leuten hilft. Denn es ist ja wohl so, dass je mehr Geld die Leute haben, andere Teile von ihnen eher verarmen. Die Gesellschaft reicht die Verantwortung nach unten durch - das ist der Grund, warum der arme Heroin Dealer den Blues bekommt. Jemand muss das wohl ja mal sagen." Das sind also Songs mit einer heilenden Wirkung? "Ich denke, da ist eine heilende Qualität in aller guten Kreativität", antwortet Jackie, "wenn zum Beispiel Chet Baker 'The Thrill Is Gone' sang, eine der besten Performances aller Zeiten, bin ich mir sicher, dass ihm irgendwie bewusst war - so kaputt er auch gewesen sein mag - dass das auch eine heilende Wirkung hatte. Ich wäre da aber sehr vorsichtig. Die Leute kaufen sich CDs aus zig Gründen, aber gewiss nicht, weil sie eine heilende Wirkung erwarten. Ganz im Gegenteil: Wenn ich zum Beispiel einen traurigen Film gesehen habe, geht es mir zuweilen nachher besser. Wenn mir aber jemand sagt, ich solle mir den Film ansehen, WEIL es mir dann nachher besser geht, dann gehe ich bewusst NICHT in den Film. So sind wir nun mal." Einer der Songs auf der neuen Scheibe heißt "My Philosophy" und handelt davon, dass Jackie in der U-Bahn-Station von Marylebone sitzt. "Da geht es um diesen Abschnitt meines Lebens, wo dieses auseinander fiel. Mir war bewusst, dass ich keine Kraft mehr hatte, ich wollte mit keinem reden, ich wollte nichts tun. Ich lebe neben der Marylebone-Station, kaufte mir Zeitungen und verkroch mich dort. Es war eine gute Möglichkeit sich vor der Welt zu verstecken. Nach einer Weile kamen diese beiden Polizisten auf mich zu - sie waren sehr cool - und fragten mich, ob ich okay sei, weil ich sehr lange dort saß. Und ich sagte dann eben, dass ich an meiner Philosophie arbeite. Sie lachten darüber und es war ein netter, warmer Moment. Es war das Zeichen für mich, die U-Bahn zu verlassen und mit meinem Leben weiterzumachen. Wir kommen alle irgendwann in unserem Leben mal in eine U-Bahn - vielleicht brauchen wir alle einen Polizisten, der uns fragt, ob wir okay sind."
Jackie Leven
Ein Teil des Erfolgsgeheimnisses von Jackies Songwelten ist die Verbindung von recht weltlichen, banalen Dingen und Ereignissen mit einer sehr poetischen Perspektive - und mit Klischees... "Ich mag es, diese weltlichen Dinge und musikalische Klischees zu kombinieren. Klischees werden diese Dinge ja erst, wenn wir älter werden. Zum Beispiel 'Greensleeves', wie auf der neuen Scheibe. Es geht also um eine Art von Erinnerung, und ich denke, dass ist wichtig: Musik und Themen zu haben, die sehr gewohnt erscheinen, aber ein wenig überhöht sind. Das passiert oft in der konzeptionellen Kunst, wo man zum Beispiel Ziegelsteine, die für gewöhnlich zum Hausbauen verwendet werden und eher langweilig sind, in einem Museum im Zentrum von Frankfurt plötzlich interessant werden. Das heißt nicht, dass ich genau das auch tue, es ist aber wichtig zu realisieren, dass man Klischees niemals entkommen kann. Im Gegenteil: Ich mag Klischees." Ist das auch der Grund, warum Jackie nicht davor zurückscheut, mit richtig "großen" Melodiebögen zu arbeiten? Melodiebögen, die anderen vielleicht zu gewagt, zu banal, zu poppig erschienen? "Genau", stimmt Jackie zu, "ich habe Pop Musik immer gemocht. Ich mag Euro-Pop. Wenn ich toure, mag ich die Musik, die in den Lifts spielt. Da gibt's diese Schönheit, die sich ergibt, wenn man sich wirklich Mühe gibt. Und das findest du oft bei Pop-Musik. Es ist wichtig, mit dem Pop-Zeug in Verbindung zu bleiben. Sicher, viel davon ist Mist - aber das ist beim Essen, beim Jazz oder beim Ballett auch so."

Neben seiner eigenen CD hat Jackie Leven auch erstmals eine CD produziert - nämlich die seines Freundes Michael Weston King - doch davon an anderer Stelle später mehr. Auf der anstehenden Tour mit Richard Thompson und Midnight Choir wird Jackie vermutlich mit seinem Keyboarder Michael Cosgrove auftreten.

Weitere Infos:
www.jackieleven.com
www.cookingvinyl.com/leven/
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigabe-
Jackie Leven
Aktueller Tonträger:
Shining Brother Shining Sister
(Cooking Vinyl/Indigo)

 
 

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