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BIG THIEF
 
Futter für die Seele
Big Thief
In Zeiten, in denen Spotify und Co. dafür sorgen, dass alles viel uniformer klingt, sind Big Thief wohltuend anders. Unbeirrt geht das US-Quartett auch auf seinem dritten Album, dem nun erscheinenden "U.F.O.F.", seinen eigenen Weg und sucht mutig nach neuen Ausdrucksformen, ohne dabei außer Acht zu lassen, was die famosen Vorgänger ausgemacht hat. Konkret bedeutet diese wunderbar organische Weiterentwicklung, dass Frontfrau Adrianne Lenker auch weiterhin ungeniert mit ihren songwriterischen wie stimmlichen Idiosynkrasien spielt, die Songs nun aber trotz eines erfreulich echten Live-im-Studio-Charmes inzwischen immer öfter auf raue Indierock-Emotionsausbrüche verzichten und stattdessen zumeist mysteriöses Dream-Pop-Flair besitzen und textlich die esoterische Seite Lenkers betonen. Zum dumm nur, dass Big Thief bereits ihr Debüt "Masterpiece" getauft haben. Der Titel hätte nämlich auch hier wirklich prima gepasst!
Stillstand scheint ein Fremdwort für Big Thief zu sein. "U.F.O.F." ist bereits die dritte LP der New Yorker Band in weniger als vier Jahren, zudem veröffentlichte Adrianne Lenker unlängst noch ein Soloalbum. Kein Wunder also, dass sich die Musiker inzwischen viel näher sind als in ihren Anfangstagen. "Als wir 'Masterpiece' aufgenommen haben, waren wir noch damit beschäftigt, uns richtig kennenzulernen", erinnert sich Lenker, als sie uns am Tag nach einem Soloauftritt in Berlin Ende Januar Rede und Antwort steht. "Wir hatten zuvor erst ungefähr ein Jahr zusammengespielt und hatten damals kein Label, keinen Manager. Wir standen ganz am Anfang." Die folgenden drei Jahre haben Big Thief fast ununterbrochen gemeinsam auf Tournee verbracht, und das hat Lenker und ihre Mitstreiter Buck Meek, Max Oleartchik und Krivchenia zu engen Freunden gemacht. "Die neue Platte ist das Resultat des vielen Unterwegsseins und unserer Freundschaft", freut sich Lenker. "Ich bin sehr stolz darauf, denn wir haben all unsere Leidenschaft in diese Platte gesteckt. Abgesehen davon ist gar nicht so viel anders als damals. Wir haben jetzt mehr Fans, wir haben mehr Unterstützung und mehr Ressourcen, um all das zu tun, was wir machen wollen, und dafür bin ich sehr dankbar."

Doch auch wenn sich vieles verändert hat: Der innere Antrieb ist für Lenker immer noch der gleiche. "Was unsere Geisteshaltung angeht - und es freut mich wirklich, das sagen zu können -, hat sich gar nicht viel verändert", verrät sie. "Ich erinnere mich daran, wie wir mit unserem runtergekommenen Transporter unterwegs waren und all diese winzigen Shows spielten und dabei das Gefühl hatten, wir hätten schon gewonnen! Auch wenn wir überhaupt kein Geld hatten, fühlte es sich an, als hätten wir es bereits geschafft, denn das, was wir machten, war Futter für unsere Seelen: Wir spielten Konzerte und durften gemeinsam all diese Reisen unternehmen. Auch heute machen wir genau das. Inzwischen ist alles eine Nummer größer, aber das Gefühl ist letztlich das gleiche."

Auch wenn Gitarrist Buck Meek im Jahre 2018 eine kurze Auszeit von der Band nahm, um sich seinen Soloambitionen zu widmen, und Big Thief eine Weile zu dritt auf Tour waren - in vielerlei Hinsicht sind Big Thief inzwischen unzertrennlich. "Weil wir alle das gleiche Ziel haben, lässt sich die Band gut mit einer romantischen Beziehung vergleichen", glaubt Lenker. "Wenn man jemanden trifft, mit dem man kompatibel ist, dann ist das ja in der Regel deshalb der Fall, weil man im Kern die gleichen Werte schätzt. Genau so ist es bei uns auch. Das treibt uns an, musikalisch Neues entdecken zu wollen, Dinge zu tun, bei denen wir mit ganzem Herzen bei der Sache sind, und dabei auch ein wenig Licht in die düstere Welt zu bringen."

Dabei sieht Lenker das blinde Verständnis innerhalb der Band nicht als selbstverständlich an. Schließlich hatte die 28-Jährige zuvor bereits fast zehn Jahre Musik ohne die richtigen kongenialen Partner gemacht. War sie überrascht, wie gut sich bei Big Thief alles zusammenfügte? "Ja, ich bin fortwährend überrascht", gesteht sie kichernd. "Ich bin ja gerade auf einer Solo-Tournee und ich spiele gerne allein, weil ich das schon mache, seit ich sehr jung war, und es deshalb gewissermaßen zu einem Teil von mir geworden ist, aber wenn ich allein unterwegs bin, dann wird mir erst richtig bewusst, was für ein Glück ich habe, ansonsten mit guten Freunden reisen zu dürfen!"

Es ist allerdings nicht nur die gute Chemie zwischen den Musikern, die Big Thief zu etwas besonderem macht. Dafür sorgen vor allem Lenkers Texte, mit denen sie nicht nur ein Gespür für ungewöhnliche Geschichten beweist, sondern auch besonderen Wert darauf legt, unerwartete Perspektiven einzunehmen. Wenn es um die Frage geht, wie sie Text und Musik für ihre Lieder schreibt, fehlen ihr allerdings bisweilen fast die Worte. "Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber der Ausgangspunkt ist zunächst einmal das, was ich als reine Vibrationen bezeichnen würde", sagt sie nach langem Grübeln. "Ich habe meine Songs immer auf der Akustikgitarre geschrieben und ich fühle sie nah an meinem Körper, ich spüre die Vibrationen der Saiten, und dann beginne ich, etwas zu spielen, das auf mich eine besänftigende Wirkung hat. Dadurch entsteht eine Öffnung, durch die die Worte kommen. Gewissermaßen wird dann der Raum, in dem ich bin, zum Portal zu einer anderen Ebene. Von dort beginnen die Worte dann einfach zu fließen, ohne dass ich groß darüber nachdenke. Das ist ziemlich schwer zu beschreiben!"

Das Schreiben ist für Lenker zudem eine echte Herzensangelegenheit, eine reine Gefühlssache, weshalb die Texte der neuen Lieder den gleichen esoterischen Touch haben, der auch im Gespräch mit ihr immer wieder durchscheint. "Ich muss in meinem Herzen im Einklang mit meinen Gefühlen sein", sinniert sie. "Ohne das kann ich nicht schreiben. Wenn ich mich selbst oder andere nicht gut behandele, funktioniert es auch nicht. Ich muss umgeben sein von einem Gefühl der Sanftheit und Liebe. Zu schreiben, wenn es einfach gerade nicht sein soll, kann ziemlich destruktiv sein. In der Regel ist das aber kein großes Problem für mich. Ich verbringe oft viele Stunden am Tag damit, mich im Gitarrespielen und Schreiben zu verlieren. Das passiert noch nicht einmal mit Absicht, das passiert eher zufällig."

Das bereits angesprochene stärkere Wir-Gefühl - erstmals sind auch alle vier Musiker auf dem Cover abgebildet - sorgt dafür, dass die neue Platte mehr als zuvor wie aus einem Guss klingt. Das Zerbrechliche und das Aggressive bilden dieses Mal stärker eine Einheit, nachdem vor allem die Songs des Vorgängers "Capacity" die Extreme betont hatten. Da ist es fast schon paradox, dass auf "U.F.O.F." mit "From" und "Terminal Paradise" zwei Stücke auftauchen, die Lenker bereits im vergangenen Jahr auf ihrem Solowerk "Abysskiss" veröffentlicht hatte - obwohl Big Thief im letzten Jahr ein halbes Dutzend weitere neue Songs live gespielt hatten, die bisher unveröffentlicht geblieben sind. "Es ergab einfach Sinn", verteidigt Lenker den ungewöhnlichen Schritt. "Mit der Band fühlen sich die Lieder völlig anders an, als wenn ich sie allein spiele. Früher war es gar nicht so unüblich, dass Songs mehrfach auftauchten. John Prine hat das gemacht, Bob Dylan, Leonard Cohen oder Townes Van Zandt. Sie hatten stets verschiedene Versionen ihrer Lieder, denn ein Song hat nie nur eine Form. Ich könnte jetzt einen Townes-Van-Zandt-Song für dich spielen und er wäre lebendig! Lieder haben ein Leben jenseits ihrer Autoren und auch jenseits ihrer Aufnahmen! Allerdings haben wir uns durchaus gefragt, ob es okay ist, die Songs erneut zu verwenden. Die Antwort war 'Ja!', denn sie passen wirklich gut auf das neue Album."

Kaum ist das neue Album veröffentlicht, gehen Big Thief schon wieder auf Tour. Die kommende Gastspielreise ist allerdings nicht mehr ganz so unbarmherzig lang wie die früheren Konzertreisen der Band. "Inzwischen sind wir in der glücklichen Situation, dass wir uns mehr Zeit nehmen können, die richtige Balance zu finden", erklärt Lenker. "Die ersten drei Jahre haben wir so viel investiert wie irgend möglich. Wir waren jeweils neun Monate des Jahres auf Tournee, aber das geht natürlich ganz schön an die Substanz."

Der große Einsatz für die Band war aber nicht nur körperlich anstrengend. Schon bald merkten Lenker und die Ihren, wie wichtig es ist, ein Leben außerhalb der Musik zu haben, damit es Stoff für neue Songs jenseits von "Running On Empty"-Klischees über das Unterwegssein an sich gibt. "Deine Erlebnisse und Erfahrungen abseits der Band kannst du anschließend wieder in sie einbringen, und dadurch wird die Bindung unter den Musikern und zu deinem Publikum stärker. Schließlich ist es wichtig, dass du dich bei den Shows gut fühlst, dass du Leidenschaft für dein Tun spürst, dass du heiß darauf bist, aufzutreten. Auf diese Art will ich mein ganzes Leben lang Konzerte spielen und Platten machen. Deshalb habe ich inzwischen begriffen, wie wichtig es ist, ein Zuhause zu haben, wie wichtig Freunde und Familie sind. Ich will Zeit mit meiner Familie verbringen, ich will die Kinder meiner Geschwister sehen, die so wahnsinnig schnell groß werden, ich will Liebe erfahren. So wichtig es dir auch erscheinen mag, mit der Band am Ball zu bleiben, so wichtig ist es doch auch, das richtige Gleichgewicht zu finden und darauf zu achten, gesund und stark zu bleiben. Wenn das nicht gegeben ist, läufst du Gefahr, dass irgendwann auch die Band zusammenbricht. Langsam, aber sicher wird uns das bewusst, und deshalb planen wir nun mehr Pausen ein."

Eine andere Möglichkeit wäre, es ähnlich wie Bob Dylan zu machen, der seit inzwischen genau 30 Jahren auf seiner sagenumwobenen "Never Ending Tour" unterwegs ist. Dabei definiert er das Unterwegssein einfach als sein Zuhause, anstatt ständig das Ende der Gastspielreise und die Rückkehr in die eigenen vier Wände herbeizusehnen. Eine Sichtweise, der Lenker viel abgewinnen kann. "Vielleicht meint er mit der Straße auch gar nicht nur das Tourleben, sondern die endlose Reise ständiger Veränderung", überlegt sie. "Wenn du akzeptieren kannst, dass das Leben eine fortwährende Aneinanderreihung von Veränderungen ist und das für dich statt eines festen Ortes das Zuhause ist, dann können dir all die Unwegsamkeiten unterwegs nichts anhaben." Sie hält inne. "Vermutlich wäre das dann noch nicht einmal auf das Musikerdasein beschränkt", fügt sie abschließend hinzu. "Auf der Straße des Lebens ist ja jeder unterwegs!"

Weitere Infos:
www.bigthief.net
www.facebook.com/bigthiefmusic
www.twitter.com/bigthiefmusic
www.instagram.com/bigthiefmusic
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Big Thief
Aktueller Tonträger:
U.F.O.F.
(4AD/Beggars Group/Indigo)
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