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OKKERVIL RIVER
 
Die gleichen Noten in anderer Tonart
Okkervil River
Für einen Moment sah es vor anderthalb Jahren so aus, als würde Will Sheff seine Band Okkervil River nach rund zwei Jahrzehnten zu Grabe tragen. Auf "Away", der letzten Platte der Amerikaner, hieß schließlich gleich der erste Song vielsagend "Okkervil River R.I.P.", und das dazugehörige Video zeigte den Vordenker der Band aus Austin, Texas, in einem Sarg liegend. Jetzt wissen wir: Das zurückgezogene Werk war Ende und Neuanfang zugleich. Auf dem Nachfolger "In The Rainbow Rain" geht es nicht zuletzt um das Leben in Amerika unter Donald Trump, doch mit den inzwischen von Sessionmusikern zu Bandmitgliedern beförderten "Away"-Mitstreitern und einem fröhlicheren Sound mit stärkerem Augenmerk auf Synthesizer, Beats aus der Steckdose und elektrische Gitarren zielt Sheff auf einen hoffnungsvollen Protest ab, anstatt vor den Herausforderungen zu kapitulieren. Beim Pressestopp in Berlin sprachen wir mit dem Vordenker der Band über 20 Jahre Okkervil River, das wiedererstarkte Gemeinschaftsgefühl in der neuformierten Band und seine Suche nach Spiritualität.
GL.de: Will, du hast Okkervil River vor genau 20 Jahren gegründet. Wie fühlt sich das an?

Will Sheff: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages in der Lage sein würde, ohne Job außerhalb der Musik auszukommen. Lange Zeit hätte ich es mir noch nicht einmal träumen lassen, dass sich jemals irgendwer außerhalb meines Freundeskreises für meine Band interessieren würde. Deshalb bin ich unglaublich dankbar. Dass ich nun sogar für eine reine Promotour nach Europa eingeflogen werde, ist für mich einfach nur... wow! Das hätte mir mal jemand sagen sollen, als ich noch in irgendwelchen miesen Videoläden in Austin, Texas, gearbeitet habe!

GL.de: Erinnerst du dich an einen Wendepunkt, an dem du dachtest: Jetzt habe ich's geschafft?

Will Sheff: Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn das Ganze nicht funktioniert hätte. Ich glaube, ich habe damals sogar mal gesagt, dass ich mich dann umbringe, ganz einfach, weil ich mir den Erfolg der Band so sehr gewünscht habe! Ich hatte diese Phase, in der ich nicht im Traum daran dachte, dass ich je erfolgreich sein würde, gleichzeitig habe ich aber auch die Möglichkeit ignoriert, dass es nicht klappen könnte. Das mit den Wendepunkten ist so eine Sache. Vorhin hat mich eine Dame interviewt, die sagte, dass Okkervil River ja bei SXSW ihren großen Durchbruch gehabt hätten. Ich bin mir bewusst, dass das so bei Wikipedia steht, aber das deckt sich in keiner Weise mit meiner Erinnerung. Was mir dazu in den Sinn kommt, ist ein halbleerer Laden um 19.00 Uhr. Wir waren einfach eine der 1000 Bands, die bei SXSW aufgetreten sind! Ganz schön seltsam, was die Leute in der Rückschau daraus machen. Vielleicht stimmt ihre Sicht der Dinge ja sogar, auch wenn ich selbst ziemlich sicher bin, dass es nicht so passiert ist. Genauso heißt es immer, dass wir mit "Black Sheep Boy" groß rausgekommen sind. Ich dagegen erinnere mich daran, wie mir unsere Promoagentur - das was das allererste Mal, dass wir eine engagiert hatten - eine Mappe mit Reviews zum Album gab, die alle ziemlich mittelprächtig waren. An dem Punkt hatte ich das Gefühl, dass wir versagt hatten. Für mich gab es deshalb keine echten Meilensteine, es war eher ein langsamer Aufstieg. Eine große Sache war allerdings, als wir zum ersten Mal in Medien auftauchten, die sogar meine Eltern kannten, Rolling Stone zum Beispiel oder unser erster Fernsehauftritt bei Conan O'Brien. Da hatte ich schon das Gefühl, dass es jetzt keinen Weg mehr zurück gibt. Nicht im dem Sinne, dass wir immer erfolgreich sein würden, aber im Sinne von: Das kann mir niemand mehr nehmen!

GL.de: "Away" ist als Will-Sheff-Soloplatte unter dem Namen Okkervil River beschrieben worden. Die neue LP dagegen klingt wieder eher wie eine Gemeinschaftsproduktion. Darf man das so sagen?

Will Sheff: Ja, in gewisser Weise stimmt das. "Away" war letztlich gleichzeitig ein Soloalbum und eine Okkervil-River-Platte, weil es mir darum ging, zum Gefühl der frühen Tage der Band zurückzukehren, allerdings mit anderen Mitstreitern. Letztlich spielen auf "Away" die gleichen Musiker wie nun auf "In The Rainbow Rain", aber damals waren sie lediglich irgendwelche Typen, die ich für die Studioarbeit angeheuert hatte. Anschließend gingen wir zusammen auf Tour und hatten eine richtig gute Zeit, und auch das Zusammenspiel war klasse. Deshalb sagte ich auf der Tournee: "Lasst uns so bald wie möglich etwas aufnehmen und dabei unseren Live-Sound einfangen", denn auf der Bühne klangen wir bereits ganz anders und viel elektrischer als auf "Away". Also buchte ich lange im Voraus Studiozeit. Dann kam die Präsidentschaftswahl und die Klangfarbe der Songs veränderte sich vollkommen.

GL.de: Die Herangehensweise an "Away" und "In The Rainbow Rain" war ähnlich, trotzdem haben die Platten eine unterschiedliche klangliche Ausrichtung. Wie kam es dazu?

Will Sheff: Jede Platte hat ihre Keimzelle. Das kann ein Sound sein, nach dem du suchst, oder ein Satz, der die Dinge für dich gut zusammenfasst. Entlang des Weges wächst das Album dann, ohne hoffentlich in alle Richtungen zu wuchern. Es sollte eher wie der Lichtkegel einer Taschenlampe sein. Er wird breiter, es ist aber immer noch das gleiche Licht. Die erste Idee, die ich für die neue Platte im Kopf hatte, war eine eine Platte wie "Away" zu machen, aber darauf so zu klingen wie auf der Bühne, wo wir bereits viel mehr Stromgitarren und Synthesizer verwendeten. Dann hörte ich mir die Demos an, und sie klangen nach einem glücklichen Typen. Da fasste ich den Entschluss, nur noch Sachen zu machen, die mich wirklich glücklich machen. Gewisse Sounds lösen ja bestimmte Gefühle aus. Langsame, lang gehaltene Töne haben etwas Meditatives, kurze, schnelle Stakkato-Töne dagegen sind belebend und stärkend. Ich habe versucht, die musikalische Palette nachhaltiger auszuschöpfen, um die Hörer einerseits zu unterhalten und zu erfreuen, andererseits aber auch zu besänftigen und zu trösten.

GL.de: Das ist ja in der Tat das Schöne an Musik. Selbst ohne Worte kann sie bestimmte Emotionen hervorrufen. Das Wissen darum kann sicherlich sehr hilfreich sein, allerdings gibt es auch einige Musiker, die sich möglichst wenig mit Musiktheorie beschäftigen wollen, um sich eine gewisse Unschuld zu erhalten.

Will Sheff: Es gibt dabei drei Stufen. Ich habe die genauen Begriffe nicht im Kopf, aber am Ende zielen sie auf eine Reintegration ab. Viele autodidaktische Rockmusiker haben anfangs gar keinen Schimmer von Musiktheorie, sie wollen oft nur wissen, wie man eine Gitarre toll klingen lässt oder wie man einen einfachen Beat auf seinem Laptop hinbekommt. Wenn dann nur ein klein wenig Musiktheorie hinzukommt, kann schnell alles in die Binsen gehen, denn plötzlich machst du dir zu viele Gedanken. Du weißt, wie billig deine Gitarrenakkorde sind und dass dein Beat nicht perfekt ist. Damit ruinierst du dir deine Unschuld. Der Traum ist, zur letzten Stufe vorzustoßen, in der du Musiktheorie in dein Tun integrierst, ohne dass sie dich im fest im Griff hat. Im zarten Alter von 41, nachdem ich das alles hier 20 Jahre gemacht habe und dabei von all diesen wahnsinnigen Musikschul-Kids umgeben war, habe ich ein Verhältnis zur Musiktheorie, das reintegrierend ist. Ich fühle mich nicht von ihr bedroht und ich muss auch nicht beweisen, dass ich ein helles Köpfchen bin. Musiktheorie ist inzwischen etwas, das ich als erfreulich empfinde.

GL.de: Wie schaffst du es, dir nicht zu viele Gedanken zu machen?

Will Sheff: Nun, es wird erwartet, dass du als Musiker eine Art naiven Wagemut an den Tag legst. Wenn du jung bist, hast du keinen Schimmer, wie wenig originell dein Tun ist. Weil du es nicht besser weißt, vermittelst du das Gefühl, dass du der Erste bist, der darauf gekommen ist - und das ist genau das, was die Leute von dir wollen: Das Gefühl der Entdeckung, des Neuen. Das muss gar nicht mal echt sein, es muss sich nur echt anfühlen, denn das ist praktisch genauso gut. Irgendwann merkst du, dass es schon eine Million Songs gibt und deiner wie dieser oder jener klingt. Dann wirst du zum Zyniker und hast Angst davor, dich auf dumme, naive Weise auszudrücken. Das Ziel ist auch hier Reintegration. Denke doch nur mal an die neue "Twin Peaks"-Serie. Sie ist ohne Frage ein Werk von David Lynch, aber trotzdem komplett anders als die erste. Man hat das Gefühl, dass er das als jüngerer Mann noch nicht hätte umsetzen können. Trotzdem hat sie einige der ungelenken, natürlichen, intuitiven Züge, bei denen man sich fragt, wie er darauf nur kommen konnte. Für mich ist das ein Beispiel, wie jemand seine langjährige Erfahrung integriert hat. Dadurch ist er zu einer älteren Version seines Ichs vorgestoßen. Gewissermaßen spielt er die gleichen Noten wie zuvor, aber in einer anderen Tonart.

GL.de: Die Songs auf deiner neuen Platte reflektieren nicht zuletzt das Amerika des Donald Trump. Greift da das alte Klischee, dass harte Zeiten eine gute Inspirationsquelle sind?

Will Sheff: Ich denke, eigentlich kann alles inspirierend sein. Es gibt keine vorgefertigten Wege, wie man das angeht. Einzig Langeweile ist kein guter Antrieb, obwohl du genau darüber vermutlich auch einen Song schreiben könntest. Manche Leute beschwören allerdings Dramen herauf, um daraus Kunst zu machen - und das habe ich noch nie gemocht. Mein persönliches Ziel ist schlicht und ergreifend, immer die beste Arbeit abzuliefern. Um noch einmal auf David Lynch zurückzukommen: Es gefällt mir, wenn ein reiferer Künstler Sachen macht, die darauf aufbauen, dass er ein guter Mensch ist, der zufrieden, glücklich und ausgeglichen ist. Im Idealfall ist das der Zustand, auf den man hinarbeiten sollte.

GL.de: Das bringt uns zur letzten Frage: Du selbst hast in den letzten Jahren Spiritualität als Anker entdeckt?

Will Sheff: Ja. Spiritualität sorgt dafür, dass du auf dem Teppich bleibst. Eine Metapher dafür wären Wurzeln. Auch wenn du starken Gegenwind spürst, hast du doch etwas, das dich im Boden verankert. Ich finde, dass es meine Aufgabe, mein Job ist, Arbeit abzuliefern, die so kraftvoll wie irgend möglich ist. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass ich nach mehr Macht suchen müsste. Natürlich nicht Macht über andere, sondern nach einer höheren Macht. Wenn man Spiritualität richtig anwendet, wirkt sie wie körperliche Ertüchtigung für die Seele. Gleichzeitig ging es mir auch darum, ein besserer Mensch zu sein.

Weitere Infos:
www.okkervilriver.com
facebook.com/okkervilriver
Interview: -Simon Mahler-
Foto: -Shervin Lainez-
Okkervil River
Aktueller Tonträger:
In The Rainbow Rain
(ATO/Pias/Rough Trade)
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