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SHARON VAN ETTEN
 
Alle Zweifel ausgeräumt
Sharon Van Etten
Erfolg allein macht nicht zwangsläufig glücklich. Diese Erfahrung musste Sharon Van Etten in den letzten zwei Jahren machen. Ihr letztes Album, "Tramp", stieß allenthalben auf Begeisterung, doch ihren Aufstieg zum weltweit geliebten Indie-Folk-Darling hat sich die 33-jährige New Yorkerin teuer erkauft. Rund 18 Monate arbeitete sie unglaublich hart und war praktisch ununterbrochen auf Tour. Ihr Privatleben geriet derweil mächtig ins Trudeln. Jetzt sitzt sie in einem der vielen schrägen Zimmer ihrer liebsten Berliner Künstlerabsteige, dem Michelberger Hotel an der Warschauer Straße, und spricht über das zentrale Thema ihres beeindruckenden vierten Albums, "Are We There": den Kampf, ihr Liebesleben mit einer immer zeitintensiver werdenden Karriere zu vereinen. Obwohl ihre Songs fraglos mehr nach innen denn nach außen gerichtet sind, strahlt die zierliche Dame mit den wachen braunen Augen im Gaesteliste.de-Interview ungekünstelte Herzlichkeit aus und quittiert praktisch jede Frage zunächst einmal mit einem Lachen oder Kichern, bevor sie antwortet.
"I sing about my fear and love and what it brings", heißt es in "I Know". Neu ist das für Sharon natürlich nicht. Auch schon auf ihren vorangegangenen drei Alben hatte die Amerikanerin ihr Herz auf der Zunge getragen und gefühlsbetont und bisweilen schonungslos offen ihre Gedanken und Emotionen offenbart, ohne dabei je in die Klischeefalle zu tappen. Eines ist dieses Mal dennoch anders: Handelten die Texte der Vorgängerplatten zumeist von Situationen und Ereignissen, die oft Jahre zurücklagen, dreht sich auf "Are We There" alles um die Gegenwart. "Es stimmt, mit all meinen bisherigen Platten habe ich lediglich das reflektiert, was zuvor geschehen war und wie mich das verändert hatte", bestätigt sie. "Die neue Platte ist so kniffelig, weil ich immer noch neue Perspektiven in den Songs entdecke, weil sie so heftig sind und von sehr spezifischen Dingen handeln. Da die Lieder so persönlich und mir so nah sind, realisiere ich oft selbst erst, worum es darin eigentlich geht, wenn ich ein bisschen mehr Abstand von ihnen habe. Deshalb fällt es mir schon recht schwer, ausführlich darüber zu reden." Sie hält inne, lacht und ergänzt: "Letztlich ist das natürlich mein eigener Fehler!"

Mit "Are We There" zeichnet Sharon das ständige Auf und Ab ihres Gefühlslebens in den letzten zwei Jahren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen nach. Viele der neuen Songs lesen sich wie unzensierte Tagebucheinträge und verraten dem Hörer viele, teils sehr intime Details einer langjährigen Romanze mit vielen Höhen und Tiefen, Anfängen und Enden, Hoffnungen und Enttäuschungen. Davon handelt auch das älteste Stück des Albums namens "Break Me". "Das war der erste Song, den ich nach der Fertigstellung meines letzten Albums geschrieben habe", verrät Sharon. "Während der Aufnahmen zu 'Tramp' hatte ich ja keine eigene Wohnung und bin bei allen möglichen Freunden untergekrochen, und als die letzte Platte fertig aufgenommen war, habe ich mir dann endlich wieder eine eigene Wohnung gesucht. Ich wohnte in Brooklyn und mein damaliger Freund in Manhattan, und weil die Dinge zwischen uns wirklich gut liefen, überlegten wir schnell, ob wir nicht zusammenziehen sollten, sobald sich mein Arbeitspensum etwas verringern würde. Damals schrieb ich 'Break Me'. Es handelt davon, zusammenzuziehen und mehr Zeit füreinander zu haben."

Doch bevor es dazu kommen konnte, ging Sharon erst einmal auf Tour, wissend, dass lange Gastspielreisen Gift für jede Beziehung sind. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 sah sie ihren Liebsten kaum. Erst im Juni, nach ihrem Auftritt beim Primavera Festival in Barcelona, hatten die beiden bei einem gemeinsamen Urlaub in Südspanien wieder wirklich Zeit füreinander. Davon erzählt "Tarifa", die vielleicht schönste, mit einem herrlichen Bläsersatz und Hammondorgel verzierte Ballade des neuen Albums, die gewissermaßen den emotionalen Mittelpunkt der Platte symbolisiert. "Mein Freund ist eingeflogen, wir sind die Küste runtergefahren und haben in Tarifa eine Woche Urlaub gemacht. Er ist ein ziemlicher Zappelphilipp, aber so sehr mit sich im Reinen wie dort habe ich ihn noch nie erlebt", verrät Sharon. "Wir haben einfach in der Sonne gelegen, draußen gesessen und gelesen, zusammen gekocht und waren bei den Klippen, von wo aus man Marokko sehen kann. Es war so wunderschön, so einsam, so friedlich! Weil ich immer an Songs arbeite, wenn ich nicht gerade zu beschäftigt bin, schrieb ich auch, als wir dort waren. Eine erste Version des Songs 'Tarifa' existierte also schon damals, im Juni 2012. Ich nahm ein Demo auf und ließ es erst einmal liegen. Zu den Songs, die ich zuvor beiseitegelegt habe, kehre ich dann wieder zurück, wenn ich mal etwas Zeit habe oder ich mich uninspiriert fühle und nichts Neues schreibe."

Zunächst lieferte ihr allerdings das Leben Stoff für weitere Songs. Nur wenige Monate nach dem Urlaub in Tarifa spielte sie erstmals "Your Love Is Killing Me" live und ließ in der niederschmetternden Soloversion die brutalen Bilder des Songs ("Break my legs so I won't walk to you / Cut my tongue so I can't talk to you / Burn my skin so I can't feel you / Stab my eyes so I can't see") ungefiltert auf den Hörer einstürzen. Von den Träumen aus "Break Me" und der (trügerischen) Idylle von "Tarifa" ist hier nichts mehr zu spüren. "Der Song ist wirklich erbarmungslos", stimmt Sharon zu. "Ich nenne ihn scherzhaft 'das Biest', und wenn ich ihn mir heute anhöre, muss ich erst einmal auf Stopp drücken und ganz tief durchatmen, sodass alle es hören können, als wollte ich damit sagen: 'Ja, ich weiß, der Song ist heftig!' Ich habe ihn geschrieben, als ich gerade eine ganze Menge durchzumachen hatte. Das Einzige, was mich davor bewahrte, in Tränen auszubrechen, war, 'Your Love Is Killing Me' zu singen. Deshalb war die Soloversion, die ich anfangs live gespielt habe, so unglaublich roh." Auf der Platte sorgt die Band dagegen dafür, dass das Stück zumindest musikalisch etwas von seinem Schrecken verliert. "Im Studio haben wir drei oder vier verschiedene Fassungen aufgenommen, eine mit einer wandernden Bassbegleitung und eine mit einem ganz tiefen Sub-Bass, und ursprünglich hatte ich mir sogar eine richtig raue Velvet Underground-Version vorgestellt", erzählt Sharon. "Mein erstes Demo hatte dagegen etwas von The Cure! Der Song hätte sich in alle möglichen Richtungen entwickeln können, schließlich gab es zunächst nur Gitarre und Stimme. Letztlich schälte sich die endgültige Version aber ganz natürlich heraus, denn ich hatte einfach das Gefühl, dass die Nummer auf Platte nicht so rau sein muss wie in der Live-Version. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe, oder?"

Sharon Van Etten
Diese letzte Aussage unterstreicht, dass Sharon auf "Are We There" als Texterin zwar an alten Tugenden festhält, als Musikerin aber deutlich gewachsen und inzwischen spürbar selbstbewusster ist. War die Musik gerade auf ihren ersten beiden Alben, "Because I Was In Love" (2009) und "Epic" (2010), kaum mehr als das Mittel zu dem Zweck, die Texte zu transportieren, ist sie auf der neuen Platte viel zielgerichteter. Auf Effekthascherei verzichtet Sharon aber auch weiterhin. Dichte Atmosphäre ist ihr wichtiger als oberflächliche Eingängigkeit. Dass "Are We There" dennoch mit einigen betont reichhaltigen Arrangements überrascht, mit unerwartetem Instrumentarium begeistert und mit der dezenten Verwendung von Oldschool-Elektronik und souligen Zwischentönen neue Wege einschlägt, ist nicht zuletzt dem Einsatz des Omnichords geschuldet. Diese - verkürzt gesagt - elektronische Zither mit eingebauter rhythmischer Begleitung löste beim Songschreiben gemeinsam mit dem Klavier die Gitarre als wichtigstes Instrument ab. "Heather Woods Broderick aus meiner Band hatte mir das Instrument auf unserer letzten Tournee gegeben, weil wir damit für den Song 'Magic Chords' die Orgel der Studioversion imitieren konnten", erinnert sich Sharon. "Das Omnichord wurde für mich schnell zu einem wichtigen Songwriting-Werkzeug, weil ich Kopfhörer anschließen kann und meine Nachbarn nicht störe und es außerdem eine ganze Reihe cooler, eingebauter Beats und Pads besitzt. Letztlich habe ich vier oder fünf Songs der neuen Platte mithilfe des Omnichords geschrieben."

Das führte mitunter zu unerwarteten Ergebnissen, wie zum Beispiel dem in ungewohnt hoher Stimmlage gesungenen "Our Love". "Das war ein Unfall!", gesteht Sharon. "Ich habe auf dem Omnichord mit einer Akkordfolge herumgespielt, die mich an die Band Air erinnerte. Mein erster Gedanke war deshalb, 'Our Love' wie einen Air-Song klingen zu lassen. Ich habe versucht, ihn ganz sanft und mitfühlend zu singen, denn wenn ich mit meiner natürlichen Stimme singe, klingt das ja immer ziemlich aggressiv." Sie macht eine Pause und lacht. "Ich singe für gewöhnlich so laut, weil ich mit dem Singen im Kirchenchor angefangen habe und mir deshalb immer vorstelle, dass ich a cappella einen großen Raum füllen muss. Wenn ich mit dem Omnichord arbeite, verwende ich manchmal vorprogrammierte Akkorde, die ich sonst nicht benutze, und das hat mich bei 'Our Love' gezwungen, höher zu singen. Auf der Gitarre benutze ich nur eine sehr überschaubare Anzahl an Akkorden, weil meine Hände zu klein sind, um die wirklich schrägen Sachen zu greifen!", sagt sie und muss schon wieder lachen.

Doch auch wenn sie sich bisweilen vom Zufall leiten ließ: Die vielleicht wichtigste Neuerung bei "Are We There" ist, das Sharon die Zügel dieses Mal so fest in der Hand hatte wie nie zuvor. Der Grund dafür ist simpel: Ihr kometenhafter Aufstieg nach der Veröffentlichung von "Tramp" brachte sie ins Grübeln. Waren es wirklich ihre Fähigkeiten als Schreiberin und Performerin ungemein persönlich gefärbter Songs, die sie die Karriereleiter hinaufkatapultiert hatten, oder war es doch nur die Verbindung zu den Überfliegern The National, deren Aaron Dessner vor zwei Jahren ihr letztes Album mit vielen prominenten Gästen produziert hatte, die ihr zum Durchbruch verholfen hatte? "Are We There" produzierte Sharon deshalb selbst - und räumt damit alle Zweifel aus.

Aufgenommen wurde das Album in New Jersey, im Studio von Star-Produzent Stewart Lerman, der Sharon auch bei der Produktion ein wenig unter die Arme griff. Besonders bekannt ist das Hobo Sound Studio in Weehawken nicht, aber genau das war eines der Dinge, die Sharon daran besonders gefielen. "Es sollte natürlich ein Ort sein, an dem ich mich gut fühlen würde, aber es sollte nicht eines der angesagten Studios sein, wo jeder aufnimmt, damit am Ende der 'Sound von New York' oder der 'Sound von Williamsburg' herauskommt", sagt sie über die Wahl des Aufnahmeortes. "Ich wollte auch kein Studio haben, bei dem man von vornherein schon weiß, wie die Platte nachher klingt, weil es für einen ganz speziellen Vibe bekannt ist. Letztlich sind wir deshalb in Stewarts Studio in New Jersey gelandet, wo ich meine Freunde um mich hatte, die mir dabei geholfen haben, meine Visionen Realität werden zu lassen. Dass ich mich mit Menschen umgeben habe, die mich angespornt haben, war ungemein wichtig." Zu den Freunden und Vertrauten, die Sharon bei "Are We There" unterstützten, zählen Peter Broderick (Efterklang), Jana Hunter (Lower Dens) Jonathan Meiburg (Shearwater), Mackenzie Scott (Torres), Dave Hartley und Adam Granduciel (The War On Drugs) und natürlich die Musiker ihrer phänomenalen Touringband, Doug Keith, Zeke Hutchins und Heather Woods Broderick.

In Lermans Studio entstanden sowohl Bandversionen der Songs als auch Fassungen, auf denen Sharon praktisch alle Instrumente - sogar Bass und Schlagzeug! - selbst einspielte. Nur zwei Songs wollten ihr nicht so recht gelingen. "In Stewarts Studio gibt es nur ein Pianino, und bei den beiden Klavierballaden, die ich aufnehmen wollte, musste ich gleichzeitig singen und spielen", erklärt sie. "Ich habe zwar versucht, Klavier und Gesang unabhängig voneinander aufzunehmen, aber das wollte so gar nicht funktionieren. Die Songs klangen am Ende vollkommen leblos." Also suchte sie gemeinsam mit Lerman, der bereits seit den 70ern in der New Yorker Studioszene unterwegs ist und daher überall Kontakte hat, nach einer Lösung. "Stewart schickte ein paar Mails an Freunde raus, die Zugang zu Studios mit einem Konzertflügel hatten. Ausgerechnet im Electric Lady gab es ein offenes Zeitfenster und Stewart brachte mich dort für einen Tag unter. Das Gute bei einem Konzertflügel ist nämlich, dass man ein in Decken eingewickeltes Mikro hineinlegen kann und damit den Klang von Instrument und Stimme besser isolieren kann, als das bei einem Pianino möglich wäre. Das kann später beim Mixing hilfreich sein. In erster Linie haben wir also dort aufgenommen, weil Stewart den Flügel kannte und die Leute, die dort arbeiten, und wir beide in Manhattan wohnen und das Studio praktisch um die Ecke ist. Aber natürlich ist Electric Lady ein großartiges Studio mit einer unglaublichen Geschichte, und dort aufzunehmen war einfach Wahnsinn!"

Nicht nur, dass das Studio im Village einst von Tontechniker Eddie Kramer für keinen Geringeren als Jimi Hendrix eingerichtet wurde, Sharon spielte "I Love You But I'm Lost" und "I Know" auf dem gleichen Flügel ein, der schon bei den Sessions zu Patti Smiths legendärem Debüt "Horses" Mitte der 70er-Jahre zum Einsatz gekommen war! Produziert hatte die Platte damals John Cale, dem Sharon ihr letztes Album gewidmet und mit dem "Fear"-inspirierten Artwork der Platte zusätzlich Tribut gezollt hatte. Als sie das vor etwas mehr als zwei Jahren tat, hatte sie Cale noch nicht einmal live auf der Bühne gesehen, geschweige denn, ihn persönlich kennengelernt. Ein paar Monate später allerdings begegneten sich die beiden bei den Aufnahmen zu der Fernsehsendung "Later... With Jools Holland" in England und der frühere Velvet Undergrounder war offenbar von Sharon so angetan, dass er sie kurz darauf einlud, im Januar 2013 bei seinem Tribute-Abend für Nico in New York die Songs "Falconer" und "My Only Child" zu singen. Dass das wirklich passiert ist, kann Sharon immer noch nicht so richtig glauben. "Es ist schon schräg, wie das Universum manchmal alles auf den Kopf stellt! Nicht in einer Million Jahren hätte ich das für möglich gehalten. Zuerst mit ihm zusammen aufzutreten und dann tatsächlich mit ihm zu singen, das war schon... ziemlich verrückt!", sagt sie und lacht ein letztes Mal. "Ich weiß, was für ein Glückskind ich bin, und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich das extra betonen sollte. Natürlich kann es manchmal hart sein, ständig zu touren und deshalb kein richtiges Leben führen zu können, aber am Ende des Tages bin ich sehr glücklich mit dem, was ich tue!"

Weitere Infos:
www.sharonvanetten.com
www.facebook.com/SharonVanEttenMusic
en.wikipedia.org/wiki/Sharon_Van_Etten
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Dustin Condren-
Sharon Van Etten
Aktueller Tonträger:
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