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HOLGER CZUKAY
 
Entscheidungsträger
Holger Czukay
Da sitzt also der frischgebackene Echo-Preisträger Holger Czukay und grinst - immer noch - verschmitzt und unternehmungslustig in die Runde. Für die Theorie, dass Musik ggf. jung hält, liefert Holger jedenfalls nachdrücklich Argumente. Endlich einmal hat man das Gefühl, hier auf jemanden getroffen zu sein, der NICHT bereits mit 30 Jahren beschlossen hat, stetig zu vergreisen. Ganz im Gegenteil: In einem Alter, wo andere erleichtert ihre Rente einreichen, will Holger es noch einmal wissen. Auf dem kleinen Label Fünfundvierzig erscheint am 24. März (Holgers 65. Geburtstag) die neue CD "The New Millennium", die er - nach bewährter Manier - wieder mit seiner kongenialen Gesangspartnerin U-She einspielte. Im Gegensatz zu den letzten Scheiben, "Time And Tide" und "Linear City", die nur über seine Website www.czukay.de zu haben waren, wird "The New Millennium" nun aber wieder regulär erhältlich sein.
"Eigentlich hatte ich vor, überhaupt nicht mehr mit der Plattenindustrie zusammenzuarbeiten, denn ich war nur noch enttäuscht gewesen", gesteht Holger, "das ist die letzte Ausnahme, die ich gelten lassen will und ich habe eigentlich nur meinem Manager gehorcht. Er meinte, ich solle die Sachen doch noch mal der normalen Industrie anbieten, obwohl ich das eigentlich nicht nötig habe, weil mein eigenes Label, das ich über die Website führe, sehr gut läuft." Das sagt jetzt aber keineswegs ein frustrierter oder resignierender Holger, sondern lediglich einer, der es eigentlich nicht mehr nötig hat, sich mit dem ganzen Ärger herumzuschlagen, den das normale Business so mit sich bringt. (Zum Beispiel in schlecht belüfteten Cafés herumzusitzen und sich einen ganzen Tag mit Fragen löchern zu lassen). Warum auch? Das Interesse an Holgers Musik ist nach wie vor ungebrochen. Das zeigt z.B. die Tatsache, dass sich eben auch und besonders jüngere Leute, wie z.B. Dr. Walker oder eben U-She um die Zusammenarbeit der lebenden Legende geradezu reißen. "Die jungen Leute kamen auf mich zu", meint Holger z.B. auf das Dr. Walker-Experiment angesprochen, das mit einem Konzert im Kölner Liquid Sky Club begann, "und ich war sehr überrascht davon, wie leicht diese Leute auf so einen verrückten Typen reagieren konnten. Das war etwas, was die mit links machten. Eine Sache, die bei Can am Ende äußerst schwierig war. Ich hatte eigentlich nur meinen Sampler und ein Diktaphon dabei - ganz rudimentäre Sachen. Dr. Walker gelang es sogar, mich während des Spielens zu samplen und dann in seinen Rhythmusablauf mit einzubeziehen. Das war sehr spannend." Ist es denn wichtig, mit jungen Leuten zusammenzuspielen? "Ich habe eigentlich überhaupt kein Problem, mit irgend welchen Leuten zusammenzuspielen", meint Holger, "ich könnte mir auch vorstellen, mit den Red Hot Chili Peppers zusammenzuspielen." Das ist eine Anspielung auf die Echo-Verleihung 2003, auf der die Chili Peppers den Echo für das Lebenswerk an die verbleibenden drei Mitglieder von Can überreichten. "Die meisten Leute fanden die Veranstaltung langweilig", erinnert sich Holger, "aber ich dachte mir immer nur: 'Was geht denn hier ab? Bin ich auf einem anderen Planeten?' Ich sprach dann aber nachher mit den Chili Peppers - das war sehr schön." Berührungsängste kann man Holger ja nun wahrlich nicht unterstellen. Nehmen wir nur mal die neue Scheibe: Darauf finden sich z.B. Sounds, die auf jeder hippen Tanzfläche durchgingen (u.a. auch ein Remix von "Echo Girl" von "Linear City") und mit dem Titeltrack ist sogar ein waschechter Pop-Hit ist dabei. "Wie du vielleicht weißt, bin ich ein sehr kontinuierlicher Arbeiter", erläutert Holger, "es sind also schon ein paar ältere Sachen dabei - aber auch ganz neue Stücke. Z.B. 'New Millennium'." Was hat es denn damit auf sich? "Das war so, dass ich mir einen Synthesizer besorgt hatte und den gerade ausprobiert habe. Das hörte U-She und kam runter und fragte, ob ich schon was aufgenommen habe. Ich meinte 'Nö' und sie sagte, 'Dann mach doch mal'. Also nahm ich etwas auf und als ich fertig war, kam sie zurück und meinte. 'Ich habe auch schon einen Text'. Und da meinte ich: 'Dann können wir nicht vielleicht noch 'ne Gesangsaufnahme hinterher schicken?'. Und das haben wir dann auch gemacht - ein Mal, ohne Overdubs." Das ist wohl das, was man Echtzeitaufnahme nennt? "Ja, so kann man das sehen", stimmt Holger zu, "ich arbeite eben sehr spontan. Und U-She hat dieses besondere Einfühlungsvermögen." Wie äußert sich dieses denn? "U-She hat schon beim ersten Moment des Entstehens die Vision, wo so ein Stück hinführen wird. Sie ist gleich mit Text und Gesang zur Stelle, ohne dass sie auf eine große Begleitung Rücksicht nehmen muss. Das ist erstaunlich, finde ich - eine Naturbegabung." Wird da also improvisiert? "Das kann man so sehen", überlegt Holger, "'improvisiert' ist das falsche Wort, weil das mehr mit der Jazz-Musik in Verbindung gebracht wird. Nein, bei U-She ist es eine spontane Erfindungsgabe, wobei sie durchaus auch noch strategisch denkt. Sie ist da eine Art Visionärin... sie hat auch die Reihenfolge der Stücke und die Titel kreiert. Z.B. 'Djinni' - das steht bei ihr für das androgyne Wesen, die Geschlechtslosigkeit des dritten Jahrtausends, oder 'Metropolis' - da war sie zum ersten Mal in der Londoner U-Bahn. Als sich dann ein bestimmter Sound einstellte, war sie gleich zur Stelle mit einem Text. 'Chittagong' - ich habe ihr gesagt, dass Chittagong eine Hafenstadt im Bangla Desh sei und da ging sofort ihre ganze Phantasie los und sie hatte die ganze Geschichte fertig. 'Rosebud' hat auch mit dem Film ('Citizen Kane') zu tun - eine Bildbeschreibung bestimmter Momente..." Ist das übereinstimmend mit dem, was Holger mit seiner Musik machen möchte? "Bei 'Rosebud' ist das eher zufällig. Meine Musik ist ja eh bilderzeugend - obwohl ich es gar nicht so drauf anlege..." Warum arbeitet Holger dann nicht für Film oder Fernsehen? "Das habe ich noch nie gemacht", meint er hierzu, "Film begreife ich mittlerweile als ein veraltetes Medium." Und das, obwohl seine Scheiben immer wieder - zumindest vom Titel her - mit Filmen zu tun haben? "Du willst da immer eine Verbindung zum Film herstellen", sagt Holger, "aber das ist nicht so. Regisseure sind mir heutzutage zu intellektuell. Das bedeutet intellektuell verspannt. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass die mit meiner Musik besonders viel anfangen können. Ganz einmal davon abgesehen, dass den Leuten keine guten Stories einfallen. Das ist alles ein bisschen billig, da erkenne ich nichts Weltbewegendes. Und diese Materialschlachten, die aus Hollywood kommen, langweilen mich schlicht. Das sind Geldvernichtungsmaschinen."
Was ist denn eine moderne Art, sich darzustellen? "Ich denke, dass die Zukunft hier im Internet liegt", überlegt Holger, "und zwar deswegen, weil man hier das Gegenteil von dem machen muss, was man gewohnt ist. Da gibt es keinen Hochglanz, da muss man mit einer sehr geringe Auflösung arbeiten, geringe Datenströme, Animationen, mit Bildern die sich kaum oder nur Zeilenweise bewegen und sehr klein sind. Das sind Dinge, die ich auch bereits durchgeführt habe, und die auch sehr gut funktionieren. Das habe ich auch von jungen Leuten aus New York gehört, dass das von Seiten der Literatur und des Films noch überhaupt nicht richtig erkannt wird und welche Kraft sich da aufbaut. Das sehe ich genau so." Auf Holgers Website ist denn auch demzufolge eine Webcam installiert. Eben dort befindet sich auch noch ein weiterer Unterpunkt namens "writing". Dort kann jedermann seinen Beitrag leisten zu einem endlosen Bandwurm aus Szenen und Geschichten - zu einer Art kollektivem Roman. Und das ist auch ein Thema, das Holger noch am Herzen liegt. "Ich möchte einmal ein Buch schreiben", meint er auf die Frage nach bislang unverwirklichten Träumen, "dazu hat mir ja auch Brian Eno geraten. Bislang habe ich noch nicht die Zeit dazu gefunden, aber ich denke, dass ich ganz gut darin wäre, weil ich ganz gut Geschichten erfinden kann - und darum ginge es mir dabei auch." Die neue Scheibe spielt deutlich mit der Ästhetik moderner Sounds. Wie läuft das denn heutzutage bei Holger - arbeitet er z.B. mit einem Computer? "Der Computer spielt eigentlich kaum eine Rolle", verneint er das, "die meisten Sachen auf 'New Millennium' sind weder gemischt, noch auf einem Mehrspur-Programm eingeflossen. Es gibt heutzutage so viele Möglichkeiten der Klangerzeugung und das Entscheidende ist nicht das, was du spielst, sondern das Wichtige sind die Entscheidungen, die du triffst. Welche Entscheidungen und wie tiefgreifend diese sind. Ist das Resultat nun ein Guss oder ist es keiner? Vieles davon kommt aus dem Bauch heraus. Ich selber stelle immer sehr kritische Fragen an die Musik, die ich selbst mache. Wenn die abgearbeitet sind, ist das Stück fertig - nachdem man es bei anderen Menschen gegengeprüft hat."
Holger Czukay
Eine Frage bliebe noch - insbesondere in Bezug auf die neue Scheibe. Diese ist ja wieder mal von geradezu herzerwärmender Unbedarftheit - was in diesem Zusammenhang durchaus als Kompliment gedacht ist. Wenn man jetzt noch weiß, dass Holger weiland die Punk Ästhetik deswegen pries, weil dort Dilettanten am Werk seien, so fragt man sich, wie man sich über einen so langen Zeitraum eine gewisse Naivität erhalten kann, die es möglich macht, solch spielerische und experimentelle Scheiben zu manchen, wie eben "New Millennium"? "Also entweder du bist eine solche Natur, dass du dich sozusagen selbst erfrischst, indem du eine ganz junge Seele hast. Oder du bist es nicht. Das ist ganz einfach, das liegt an dir selbst", sagt Holger bestimmt, "ich bin offensichtlich so einer, der bereits zu Lebzeiten eine Wiedergeburt erfahren hat. Das ist die Kraft, aus der ich alles herhole." Dazu gehört auch, dass "New Millennium" nicht immer sehr ernsthaft klingt (zum Beispiel im direkten Vergleich mit den Arbeiten seines Can-Mitstreiters Irmin Schmidt). "Das kann ich nicht vermeiden", gibt Holger zu, "das kommt bei mir automatisch. Ich habe es ja schon gesagt: Die Musik ist die Summe aller Entscheidungen und dazu gehört es auch, humoristische Dinge einfließen zu lassen, sie zuzulassen. Und ich lasse sie zu."
Weitere Infos:
www.czukay.de
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Ullrich Maurer-
Holger Czukay
Aktueller Tonträger:
The New Millennium
(Fünfundvierzig/Indigo)

 
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