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STEVE EARLE
 
Angry Middle-Aged Man
Steve Earle
Der 11. September ist auch an Steve Earle nicht spurlos vorbeigegangen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen Neil Young oder Bruce Springsteen verfällt er aber weder in plakative Heldengesänge noch in depressive Durchhalteparolen. Earle nähert sich dem Thema ungewohnt explizit und unzweideutig. "Ashes To Ashes" ist eine Allegorie auf ein gegebenenfalls vorbestimmtes Schicksal, "Amerika V6.0" ist eine bitterböse Abrechnung mit der Institution USA per se, der Titeltrack "Jerusalem" kritisiert unverschleiert die israelischen Machenschaften in den besetzten Gebieten und "John Walker's Blues" schildert gar die Ereignisse aus der Sicht des amerikanischen Gotteskriegers John Walker Lindh, der zur Zeit wegen Hochverrates für 20 Jahre weggesperrt wurde. So etwas ist in Zeiten, in denen der Amerikaner als Solches (personifiziert durch Kasperle Bush jr.) in der Welt das aktive Handlungsrecht an sich gerissen hat und praktisch tun und lassen kann, was er möchte, sicherlich nicht alltäglich - ja geradezu verwegen und mutig.
Wie ist es denn zu diesem Album gekommen? "Nun, wer mich ein wenig kennt, der weiß, dass es eigentlich nicht meine Art ist, den Zuhörer 45 Minuten mit meiner Meinung über den Kopf zu hauen und ihm einzutrichtern, was er zu denken hat", schränkt Steve Earle die Sache zunächst mal ein, "begonnen hat das eigentlich mit 'Amerika V6.0'. Kennst du den Film 'John Q' mit Denzel Washington? Darin geht es um einen Mann, dessen Sohn schwer erkrankt ist, und der keine Versicherung hat. Er beschließt deswegen, eine Bank auszurauben. Der Film ist eine Anklage gegen das amerikanische System schlechthin. Ich hatte den Auftrag, einen Song dazu zu schreiben - das war 'Amerika'. Er sollte über die Opening Credits laufen. Dann passierte der 11. September - und man hat den Song aus dem Film genommen, mit dem Argument, er sei zu anti-amerikanisch. Das fand ich natürlich nicht so toll. Einerseits hatte ich viel Zeit und Geld da hineingesteckt, und andererseits mag ich Zensur nicht." Was hat es denn mit dem Song auf sich? "Es geht darum, dass heutzutage alles so institutionalisiert ist. Deswegen auch das mit dem 'Version 6.0' - das ist auf die Computersprache bezogen. Und wie dir vielleicht aufgefallen ist, schreibt sich 'Amerika' mit 'k'. Das ist ein 60s Ding. Zum einen weist das auf mein Alter hin und zum anderen darauf, dass es wieder mal an der Zeit wäre, wie in den 60s aufzustehen und seine Meinung zu sagen. Obwohl: Es gibt einen Unterschied zu den 60s. In den 60s achteten wir wenigstens noch darauf, die Dinge gut aussehen zu lassen. Heutzutage ist das so, das es vollkommen okay und akzeptabel zu sein scheint, wenn alles von großen Konzernen ausgebeutet und beherrscht wird." Es gibt ja nun genügend Stimmen, die sagen, dass genau das der Grund ist für 11-9. Ist es denn nicht seltsam, dass in den USA niemand nach den Gründen für das Desaster gefragt zu haben scheint? "Genau, es hat niemand danach gefragt", stimmt Steve zu, "man möchte es wohl auch gar nicht wissen. Man weiß nicht, wie man damit umgehen soll. Mir scheint, es sei denen am liebsten, wenn man es totschweigen könnte. Das ist auch der Grund, warum ich 'John Walker's Blues' geschrieben habe." In dem Stück "erzählt" John Walker aus der Ich-perspektive, wie er zum Taliban-Kämpfer wurde. "Das war ja der Gedanke dabei", erläutert Earle, "die Ausgangslage war, dass mein Sohn sich in etwa im selben Alter befindet wie Walker. Und ich habe mir vorstellt, was ich getan hätte, wenn er Walker gewesen wäre. Dabei wurde mir bewusst, dass ich nichts über den Islam weiß. Niemand weiß hier etwas über den Islam. Er wird stets aus der christlichen oder jüdischen Perspektive interpretiert. Ich glaube zwar an Gott, praktiziere selbst aber keine Religion. Also habe ich mich über den Islam informiert. Da wurde mir z.B. bewusst, dass man auch dort an denselben Gott glaubt. Das wusste ich nicht. Die Zeile, die im Refrain vorkommt heißt: 'Ich bin Zeuge, es gibt keinen Gott außer Gott' - das ist Teil des täglichen Gebetes aller Islamisten." Und was hat das mit Walkers Position zu tun? "So wie ich die Sache sehe, ist der Mann der Verbrechen, denen er angeklagt wurde, nicht schuldig", sagt Earle bestimmt, "so weit ich weiß, ist es kein Verbrechen, in ein anderes Land auszuwandern, die Religion zu wechseln und seine Sache mit der Waffe in der Hand zu verteidigen - auch wenn man das nicht gut heißen möchte. Dadurch wird man nicht zum Verräter. Weißt Du, als Amerikaner bin ich es gewohnt, dass der rechtliche Prozess hierzulande recht transparent ist. Von Walkers Prozess hat man aber erst erfahren, als dieser schon vorbei war. Soweit ich weiß, hat er sich schuldig bekannt und hat 20 Jahre bekommen. Das war aber schon sehr dubios. Man suchte offensichtlich einen Sündenbock. Und dann kommt noch eines hinzu: Der Mann ist gerade mal 20 Jahre alt. Wenn ich für alles zur Rechenschaft gezogen würde, was ich mit 20 getan habe, käme ich nie mehr aus dem Knast raus, das kannst du mir glauben."
Ein anderes - sehr konkretes - Thema, das Earle im Titelsong verarbeitet, ist Israel. "Ich war gerade in Australien, als die Israelis in die Westbank einmarschiert sind. Das ist eine schlimme Sache. Aber es geht in dem Song vor allen Dingen um eines: Ich bin ein Optimist. Ich habe zwar Angst vor der Sterblichkeit, dem Tod - sogar vor Reaktionen auf mein Album. ABER: Ich glaube nicht, dass die Welt irreparabel ist. Ich glaube, dass es möglich ist, eine Lösung herbeizuführen." Und wie könnte die aussehen? "Soweit es um uns geht, denke ich, dass wir einen Regimewechsel brauchen", sagt Earle unverholen, "nimm mal unseren starken Mann Dick Cheney: Der ist im Golfkrieg in den Irak einmarschiert, der wollte vor dem 11. September in den Irak einmarschieren und der will auch weiterhin in den Irak einmarschieren. Daran hat der 11. September gar nichts geändert." Wie kann denn ausgerechnet Musik zu einer Änderung beitragen? "Indem bestimmte Themen aufgegriffen werden und so zur Diskussion angeregt wird." Es ist ja heutzutage schon ungewöhnlich, dass sich ein etablierter amerikanischer Künstler in dermaßen deutlicher Form von der offiziellen Lesart entfernt. Was hat denn die Plattenfirma dazu gesagt? "Danny Goldberg, der Chef meines Labels, hat mich sogar ermutigt, eine politische Scheibe zu machen. Das war alles kein Problem." Und wie wird die Öffentlichkeit das Album aufnehmen? Immerhin werden die Dinge ja doch immer gerne vorwiegend nach dem Augenschein beurteilt - und der könnte bei "Jerusalem" ja leicht missinterpretiert werden. Bereits jetzt gibt es Stimmen, die "John Walker's Blues" als unpatriotische Hasstirade anprangern - obwohl die Scheibe zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht erschienen ist. "Ja, das ist nun leider mal so", bestätigt Steve, "ich war aber bereits in einigen Talkshows zu Gast - z.B. bei der 'Today Show' - und dort hatte ich kein Problem, die Sache zu erklären. Ich denke auch, dass die Leute die Scheibe verstehen werden, wenn sie sie im Zusammenhang hören."
Steve Earle
Was man bei all dem nicht vergessen darf: "Jerusalem" ist auch musikalisch eine ziemlich starke Scheibe. Neben Earles Band, The Dukes (mit Eric "Roscoe" Ambel) spielt noch Mike Bub, der Bassist der Del McCoury Band auf einem Track mit, des weiteren Earles Bruder und eben die Dukes. Es gibt mit "I Remember You" auch ein ganz unpolitisches romantisches Duett mit Emmylou Harris. "Ja, weißt du, ich habe ein Duett für Iris DeMent geschrieben, eines für meine Schwester Stacy - da fühlte sich Emmylou langsam angepisst und deshalb war es jetzt mal an der Zeit, eines für sie zu schreiben." Darüberhinaus ist "Jerusalem" eine ziemlich rauhe und herzliche Angelegenheit. "Wir haben das Album ziemlich schnell eingespielt und relativ simpel gehalten", erzählt Earle, "ich wollte schon mein letztes Album 'Transcendental Blues' zu einer knackigen Rock-Scheibe machen, aber dann habe ich mich verliebt und es ist eher eine Pop-Scheibe draus geworden. Die neue Scheibe rockt jedenfalls." Was viele nicht wissen: Steve Earle hat neben seiner Musik noch eine zweite Leidenschaft: Das Schreiben. Sein erstes Buch, "Doghouse Roses", ist eine Sammlung mit Kurzgeschichten. "Das war zunächst mal nur als Übung gedacht", erzählt er, "ich wollte mal Geschichten erzählen, mit dem Luxus, mehr Wörter verwenden zu können, als in einem Song. Die Art, die Sachen zu erzählen, ist dabei ähnlich. Auch die Charaktere kommen aus den gleichen Quellen wie die für meine Songs. Nur dass es dazu keine Melodielinie braucht. Aber das Schreiben ist schon eher eine Hardcore-Disziplin. Du musst dich jeden Tag diszipliniert hinsetzen und schreiben, sonst wird das nix. Es macht aber Spaß." Einige der Geschichten - besonders die, die sich mit musikalischen Driftern beschäftigen, wie Earle oder sein verstorbener Freund Townes Van Zandt ja selber welche sind - machen den Eindruck, dass es sich hierbei um Kerne von Romanen handeln könnte. "Hm. Ich schreibe tatsächlich gerade an einem Roman", gesteht Steve, "das erste Kapitel hatte ich quasi schon jahrelang in der Schublade. Jetzt möchte ich es aber konsequent zu Ende bringen." Worum geht es in dem Roman? "Es ist eine Art historische Fiktion", verrät der Literat, "es basiert auf einer realen Person. Es geht um einen Doktor, der mit Hank Williams jr. unterwegs gewesen sein soll, bis zu der Zeit seines Todes. Die Geschichte setzt aber nach diesem Ereignis auf und es geht um die Geschichte dieses Mannes. Ich erlaube mir aber viele Freiheiten und es ist definitiv eine fiktive Geschichte." Des weiteren hat Earle gerade ein Theaterstück über Carla Faye Tucker (die erste Frau, die - unter großer Anteilnahme der Medien - in den USA (natürlich in Texas) seit dem Bürgerkrieg hingerichtet wurde) geschrieben, das demnächst in Nashville aufgeführt wird. Auch wenn das Schreiben momentan seine große Passion ist und musikalisch momentan nichts weiter geplant ist: Steve Earle wird im Herbst mit "Jerusalem" auf Tour gehen.
Weitere Infos:
www.steveearle.com
www.steveearle.net
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Pressefreigaben-
Steve Earle
Aktueller Tonträger:
Jerusalem
(Epic/Sony Music)
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