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Interview-Archiv

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KRISTIN HERSH
 
Leiden wie ein Star
Kristin Hersh
Wenn es so etwas wie eine ultimative Ikone der Indie-Musik gibt, dann ist es zweifelsohne Kristin Hersh. Seit sie im Alter von 17 Jahren die Throwing Muses aus der Taufe hob, versorgte sie die Fans der alternativen Rockkultur immer wieder mit hochkarätigen Werken, bei denen ihre markante, sirenenhafte Stimme, die hypnotischen Gitarrenriffs, vertrackten Rhythmen, ungewöhnlichen Harmoniefolgen und psychedelischen Textpassagen als Gütesiegel gleichermaßen garantiert waren. Zuletzt überraschte sie mit einem neuen Bandprojekt namens 50 Foot Wave, mit dem sie musikalisch zu ihren Punk-Wurzeln zurückkehrte und jetzt, mit "Learn To Sing Like A Star", mit ihrer insgesamt bereits sechsten Solo-CD. Dieses Album schlägt - trotz aller Treue zu den üblichen Hersh-Trademarks - ein neues Kapitel für Kristin auf.
Neben ihrem langjährigen musikalischen Partner, Muses-Drummer Dave Narcizo wird sie hier begleitet von dem - ebenfalls befreundeten - Paar Martin und Kim McCarrick, die die neuen Tracks mit faszinierend-eindringlichen Streicherpassagen anreichern. Anders als die meisten der Solo-Ausflüge ist "Star" somit kein fragiles, zurückgenommenes Werk geworden, sondern ein selbstbewusst auftrumpfendes, stolzes Monster. "Ja, denn während ich mich auf anderen Scheiben z.B. immer dagegen gewehrt habe, mit Click-Tracks zu arbeiten, weil ich so auf fließendes Timing und Lebhaftigkeit in einer Performance wert lege - was eine jede Aufnahme eigentlich auch einfangen sollte -, so fühlte ich, dass die neuen Stücke stark und mutig sind und eine größere Behandlung vertrügen und verdienten", erklärt sie das aktuelle Kristin-Format, "das waren dann die Streicher, die ja obendrein dazu tendieren, der Sache eine gewisse Dramatik zu verleihen - etwas, was ich bislang auch immer vermieden hatte. Das führte dann zu der fast marschkapellenartigen Qualität, die bei den Aufnahmen entstand. Es klang alles im Vergleich sehr sauber, sehr stringent und sehr voluminös. Es ging dann nur noch darum, das alles auszubalancieren mit - wie soll man sagen - verwirrenden, verstörenden Overdubs und Effekten, damit es nicht zu sauber oder steril klingt. Das haben wir erreicht, indem wir verschiedenen Sounds verschachtelten, so dass man die ursprünglichen Overdubs nur noch erahnen konnten." Auf einem technischen Level beschreitet Kristin hier also definitiv auch neue Wege. In einem früheren Interview erklärte sie uns aber einmal, dass sie es, wenn möglich, vermeide, dramatisch zu wirken - doch hier scheint es zu funktionieren. "Dafür sorgten auch die McCarricks", erklärt Kristin, "Martin kenne ich bereits seit meiner ersten akustischen Solo-Tour für 'Hips & Makers' und wir haben seither immer wieder mal zusammen gearbeitet. Er weiß also genau, wie ich arbeite."

Die Scheibe klingt des Weiteren ungewöhnlich, weil Kristin dieses Mal nicht mit einem Bassisten zusammenarbeitete. "Nun, ich spiele ja auch elektrischen Bass und überhaupt alle zusätzlichen Instrumente", erklärt Kristin, "früher hatte ich auch immer gedacht, dass ein Cello eine Art melodischer Bass ist. Das stimmt aber nicht - ein Cello hat eine ganz eigene Klangfarbe. Die neue Scheibe sollte aber einen ganz spezifischen Band-Sound haben. Ich mochte den weichen Klang, den ich selbst hinbekam und verwendete die Streicher mit ihren eigenen Klangfarben." Der Titel der neuen Scheibe lässt aufhorchen - zumal auf der Rückseite der Scheibe ein glamouröses Kristin-Foto zu sehen ist, das sie in Christina Aguilera-Pose zeigt. "Christina Aguilera - ich lache mich tot", meint Kristin hierzu, "das Foto ist alles andere als glamourös. Ich hatte an dem Tag eine schwere Leberentzündung und konnte nicht aufrecht sitzen. Dave, der die Fotos gemacht hat, meinte, dass dieses das einzige gewesen sei, auf dem man mich überhaupt hätte erkennen können. Da kann mal sehen, was man mit Retusche alles machen kann. Was den Titel betrifft: Meine Technikerin Trina Shoemaker sollte die Mixe machen, weil sie große Sounds hinbekommen kann, die mir nicht gelängen. Doch sie arbeitete in Nashville und ich war nicht zugegen. Also haben wir Mixe über das Web versandt und uns dann langsam an Ergebnisse herangearbeitet. Bei diesen Download-Sessions kam mir immer wieder eine Spam-Mail unter, die mir einreden wollte, dass ich lernen müsse, wie ein Star zu singen." Welche Bedeutung hat dann aber der malerische Titel für Kristin? "Zuerst war es nur verrückt", führt Kristin aus, "dann war es lustig, dann schrecklich - besonders im Angesicht des fürchterlichen Zustandes, in dem sich die amerikanische kommerzielle Musik momentan befindet. Und dann verlor es alle Bedeutung. Und dadurch fühlte es sich richtig nett an. Schließlich kam ich auf die Idee, es so zu interpretieren, dass man ja auch für den Kosmos singen könnte - also nicht für Personen, sondern die Natur."

Ein fast beängstigendes Mysterium umgibt die Scheibe: Darauf befindet sich ein Song namens "Day Glo", in dem sich Kristin mit düsteren Bildern zum Thema Wasser beschäftigt - und dann geschah der Wassereinbruch im Hause Hersh. Und kurz nach den Aufnahmen des Albums "Golden Ocean" von 50 Foot Wave geschah die Tsunami-Katastrophe. Kann Kristin Hersh hellsehen oder glaubt sie an die Vorhersehung? "Ich glaube an Songs", weicht sie aus, "und ich glaube, dass Songs von Elementen deines Lebens zehren, die sich sowohl in der Vergangenheit oder der Zukunft befinden können. Das hat mir Mary Margaret O'Hara zum ersten Mal gesagt, und danach machte das Sinn. Ich schrieb öfters Songs, die ich zwar selber schön fand, mir selber nicht erklären konnte. Später erfüllten sie sich praktisch Wort für Wort. 'Day Glo' stürzte praktisch von allen Seiten auf mich ein - auch musikalisch." Ist das mit Träumen zu vergleichen, die sich ja auch manchmal erfüllen können? "Ja - obwohl ich aufgehört habe, Träume für meine Songs zu verwenden. Natürlich können Songs durchaus traumähnlich sein, aber dann realisierte ich irgendwann, dass meine Träume nur zu mir sprechen und keine Bedeutung für andere haben können. Während Songs auch andere Leute ansprechen sollen." Ist das auch der Grund, warum Kristin in den neuen Songs fast immer zu jemandem spricht? "Sagen wir mal so", zögert sie, "alle Szenarien, über die ich jemals geschrieben habe, sind mir auch irgendwie passiert. Also denke ich, dass ich mich auch an konkrete Personen wende. Wenn man die Texte natürlich linear verfolgt und wie ein Theaterstück zu interpretieren versucht, dann verliert man sich wahrscheinlich ein wenig in der Aussprache. Die Bedeutung des 'Du' würde sich dann sicherlich auch verändern und von Person zu Person springen. Davon abgesehen, ist aber alles wahr." Auch dieser Umstand trägt sicherlich zu einer traumähnlichen Stimmung der neuen Scheibe bei - ebenso wie ein paar kurze Instrumentals, die aus Improvisationen heraus entstanden. Etwas, das auch neu ist für Kristin Hersh. "Ja, denn ich brauchte ein paar Ruhepole zwischen den neuen Songs", beschreibt sie die Entstehung, "ich suchte nach etwas Zerbrechlichem. Dabei verwendete ich Aufnahmen von meinem Sohn, Dylan, der ein wenig Gitarre spielte und Billy, mein Mann überredete mich, ein wenig auf dem Piano herumzuspielen, weil er immer meint, ich könne das - was aber nicht stimmt." Nun, Kristin hatte ja immer schon ein gespaltenes Verhältnis zu Tasteninstrumenten. "Ja, ein Klavier kann man ja nicht in der Hand halten und darauf herumhauen", lacht Kristin, "da bevorzuge ich schon die Gitarre. Mit dem Klavier bin ich immer zu vorsichtig."
Kristin Hersh
Wenn man jetzt den Sound der neuen Scheibe betrachtet, so fragt sich natürlich, warum Kristin das Material nicht gleich für eine neue Throwing Muses-Scheibe verwendet hat? "Da gab es nicht genügend rhythmische Herausforderungen und Kniffe und es gab auch nicht genug Gebrüll für eine 50 Foot Wave-Scheibe." Wie entstanden die Songs denn, gab es da einen Plan? "Keineswegs", streitet Kristin ab, "ich schreibe niemals absichtlich Songs. Ich muss immer abwarten, was daraus wird." In dem Song "Vertigo" informiert uns Kristin darüber, dass der Teufel eine Frau ist. "Als ob das nicht sowieso jeder wüsste", schmunzelt sie. Ja, schon, aber wie sieht dann die Hölle aus? "Ach weißt du, das darf man nicht so wörtlich nehmen. Das ist die dunkle Seite des Song-Schreibens. Da schleichen sich immer düstere Dinge ein. Die Orte, die man aufsuchen muss, um mit einem fertigen Song nach Hause zu kommen, sind nicht sicher." Das klingt nach einem Abenteuer. "So kann man das sehen", bestätigt Kristin, "ich weiß, dass es mein Freund Vic Chesnutt so sieht - obwohl ich immer wieder irritiert von dem Prozess bin. Ich möchte nicht verrückt werden beim Song schreiben." Nun, Vic sagt ja auch, dass er immer wieder selber über seine Songs überrascht sei. Für ihn scheint das eher ein Spaß zu sein. "Für mich hat sich der Prozess nicht wesentlich verändert - nur meine Wahrnehmung hat sich verändert", erläutert Kristin, "großteils übrigens dank Vic. Er ist nämlich immer willens, von der Klippe zu springen und etwas zu wagen. Andere Songwriter, die ich kenne - und die ich kaum als solche bezeichnen möchte - tippen gerade mal ihre Zehenspitze in die See der Inspiration; und kommen zurück mit netten, sicheren Paketen, die einen Refrain und eine Moral haben. Wenn du sagst, dass Vic überrascht ist, dann bin ich das auch. Es ist so, dass die schönsten Sounds auch die schönsten Bedeutungen haben und dass es deswegen notwendig ist, sie - unverändert - zu hören." Womit fängt Kristin dann an, einen Song zu schreiben? "Das tue ich gar nicht", meint sie erstaunt, "ich höre immer Melodien, an die dann bestimmte Silben geknüpft sind und muss damit arbeiten. Das ist es auch schon. Bei den neuen Songs ist es z.B. so, dass sie alle einzigartig sind, worauf wir bei den Aufnahmen auch sehr geachtet haben, und dass sie alle etwas zu sagen haben - etwa wie Sätze in einem Paragraphen." Und wie wird es weitergehen? "Ich werde weiter machen", meint sie sehr bestimmt, "es wird neue Kristin Hersh-Alben, neue Throwing Muses-Scheiben und auch neue 50 Foot Wave-CDs geben. Die Bands sind z.B. so verschieden, dass wir sogar verschiedene Fans haben. Das ist sehr interessant." Kristin Hersh, so scheint es, ist also nicht nur eine Ikone, sondern auch eine verlässliche Institution. Auch ohne gelernt zu haben, wie ein Star zu singen.
Weitere Infos:
www.throwingmusic.com
en.wikipedia.org/wiki/Kristin_Hersh
www.4ad.com/kristinhersh/
www.myspace.com/kristinhersh
www.beggars.com/us/kristinhersh/index.html
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Dina Douglass-
Kristin Hersh
Aktueller Tonträger:
Learn To Sing Like A Star
(4AD/Beggars Group/Indigo)
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