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Konzert-Bericht
 
Die magische Zeitreise

Big Star
The Posies/ Arnold

London, Mean Fiddler
09.08.2001
Big Star
Andere Bands reformieren sich, gehen endlos auf Tournee, nehmen neue Platten auf und begeben sich so aufs Glatteis. Denn mit den Reunions von legendären Bands ist das ja so eine Sache: In der Regel sind sie kommerziell wie künstlerisch mehr Wagnis denn Gewinn.
Posies
Diese Probleme kennen Big Star nicht. Denn die ungemein einflußreiche Band aus Memphis, Tennessee, existiert nur als (wenngleich wohl weltbeste) Feierabend-Band. Nachdem sich Alex Chilton 1993 überreden ließ, mit seinem alten Mitstreiter Jody Stephens am Schlagzeug und den beiden "Youngstern" Ken Stringfellow und Jon Auer an Baß und Gitarre Big Star nach fast zwanzig Jahren Pause zu reaktivieren, hat die Band kaum mehr als eine Handvoll Shows pro Jahr gespielt und dabei immer wieder unterstrichen, daß eine neue Platte weder gewollt noch wahrscheinlich sei. Immerhin haben ja auch alle vier ihr eigenes Leben: Chilton als lebende Legende, die seit Jahren mit kruden Coverversionen gegen den Ruf als Rock-Messias anspielt, Stephens als Manager der berühmten Ardent-Studios in Memphis, und Stringfellow und Auer sind bekanntlich noch mit den Posies beschäftigt. Mit dem hoffnungslos überfüllten Konzert in London (der letzte Auftritt einer Drei-Daten-Tournee und erst ihr fünftes Europakonzert überhaupt!) stellten die vier eindrucksvoll unter Beweis, daß eine Band, die nur des Spaßes wegen spielt, ohne Druck von Label, Tourveranstalter oder Management, einfach besser ist.

Den Anfang machten zu früher Stunde Arnold, eine der wenigen Bands, die Alan McGee von seinem alten Label Creation mit zu seinem neuesten Spielzeug Poptones mitgenommen hat. Und nicht nur mit den neuen Songs ihres kommenden Albums konnten Arnold unterstreichen, warum McGee sie so mag: Weil sie nach dem gleichen Rezept funktionieren wie Oasis, was sie auf Dauer nicht besonders aufregend, als Vorgruppe aber ganz erträglich macht.

Da die Posies ja eh vor Ort waren, durften auch Stringfellow und Auer noch ein paar Nummern als Duo und akustisch zum Besten geben und im krassen Gegensatz zu der alkoholdurchtränkten Riesengaudi, die der Zweier aus Seattle letztes Jahr in Münster veranstaltet hatte, zeigten sich die Posies in London nüchtern, relaxt und gut gelaunt. Während Stringfellow mit Songs wie dem lange nicht gespielten "Farewell Typewriter", der ziemlich unterbewerteten Rockabilly-Nummer "My Big Mouth" und dem wunderschönen Liebeslied "You're The Beautiful One" eher auf die unbekannteren Momente der Posies-Karriere zurückgriff, bediente sich Auer vor allem bei den von ihm geschriebenen Hits und Hymnen wie "Suddenly Mary" oder "Dream All Day" und erlaubte Ken mit gespielter Ablehnung ("Mach doch, was du willst, mich überrascht bei dir nichts mehr") sogar noch, dessen Solo-Konzert in London anzukündigen. "Wir gehen jetzt, aber das Beste kommt ja noch", sagte Stringfellow, zum Schluß, und er hatte so Recht.

Zwar sah Chilton mit seinen ausgewaschenen Jeans, seinem Sporthemd, den extrabequemen Tretern und der Nickelbrille dem früheren Deutschlehrer eures Korrespondenten wesentlich ähnlicher als einem Rock-N-Roll-Gott, aber spätestens als er - schon vor dem ersten Lied vom Dauerfeedback seines Verstärkers genervt - das fragliche Gerät einfach umtrat (!), änderte sich das schlagartig. Mit welcher Intensität und Power sich Big Star durch die besten Stücke ihrer drei Alben - sämtlich aufgenommen zwischen 1971 und 1974 - spielten, war fast schon beängstigend, und nicht nur die zahlreich erschienene Prominenz à la Bobby Gillespie konnte gleich beim ersten Song "In The Street" vor Begeisterung kaum an sich halten. Daß der starrsinnige Chilton alle Publikumswünsche ignorierte, war klar, allerdings hat er inzwischen sein Ego soweit im Griff, daß er nur am linken Bühnenrand und nicht etwa in der Mitte stand und auch Stephens, Stringfellow und Auer bei einigen Songs die Lead Vocals übernehmen durften.

Und dann widerlegten Big Star einen gängigen Irrglauben: Daß das Publikum bei den besten Songs, den größten Hits am meisten ausrastet. Denn an diesem Abend ereignete sich das gleiche, was man sonst nur erlebt, wenn Bob Dylan "Visions Of Johanna" spielt oder Neil Young "After The Goldrush": Anstatt auszurasten, wurde das Publikum ganz andächtig, als würden sich die Zuschauer kollektiv darüber wundern, warum jemand, der einen solchen Song geschrieben hat, Jahrzehnte später noch um die Welt fährt, um dieses Stück für uns zu spielen. Im Mean Fiddler gab es dieses unwirkliche Szenario gleich zweimal: Zuerst bei "Thirteen", der zigmal gecoverten Hymne über das Erwachsenwerden, und dann gleich noch einmal bei "September Gurls", das die jüngeren Semester im Saal am ehesten durch die Version der Bangles kannten und hier nun von genau der Band zu hören bekamen, die 1972 das Original aufgenommen hatte. Wow.

Nach einem passenden "Thank You Friends" ("wouldn't be here if it wasn't for you") unterstrich Chilton seine fast ungewöhnlich ausgelassene Stimmung, indem er doch wirklich erklärte, Big Star würden bald ein neues Album aufnehmen und jetzt schon einmal ein paar Stücke daraus spielen. Auf die Goldwaage legen sollte man diese Aussage - nicht nur ob der amüsiert-überraschten Blicke der anderen drei - zwar nicht, aber immerhin spielten sie wirklich zwei (fast) neue Stücke, nämlich die einzigen beiden nach der Reunion 1993 entstandenen Songs, "Patti Girl" und "Hot Thing", die im Gegensatz zu Chiltons Solosachen beweisen, daß er von seinen Qualitäten als Schreiber grandioser Popsongs, die er außerhalb von Big Star nur selten hat aufblitzen lassen, nichts eingebüßt hat. Den krönenden Abschluß aber fand das Konzert mit einer Coverversion. Überhaupt erst zum zweiten Mal spielten Big Star "Wouldn't It Be Nice" von den Beach Boys und zwar derartig perfekt und authentisch, daß sich so mancher im Saal fragte, warum Brian Wilson eine ganze Armee von Musikern für "Pet Sounds" beschäftigen musste, wenn Big Star haargenau den gleichen Sound auch zu viert hinbekommen. Ein wirklich magischer Moment! Danach verlangten die strengen englischen Schankgesetze nach dem Ende der Show, das Licht ging an, die Musik vom Band ebenso, die Mikrofone wurden entkabelt. Nur das Publikum, das blieb, und es ist zu bezweifeln, ob 1500 Menschen jemals auch nur annähernd so viel Krach gemacht haben. Auf früheren Tourneen hatte Chilton Zugaben stets verweigert, laut Stringfellow mit den Worten: "Scheiß auf das Publikum, Elvis hat nie Zugaben gegeben."

Big Star
Aber in London war vieles anders, und so waren Licht und Musik plötzlich wieder aus und Chilton widmete seinem kürzlich verstorbenen Freund Ernie K Doe eine weitere Coverversion: Das funkige Memphis-Soulstück "Te Ta Te Ta Ta". Und selbst das war noch nicht das Ende, denn nachdem er grinsend erklärt hatte, daß sie mit einem weiteren Song zwar diverse britische Gesetze brechen würden, das für ihn aber völlig in Ordnung ginge, hatte sich Chilton in den Kopf gesetzt, den Abend mit einem Discosong (!) zu beenden, den Big Star allerdings vorher noch NIE gespielt hatten. Also zeigte Chilton Auer und Stringfellow kurzerhand auf der Bühne die richtigen Akkorde und ein schlicht sensationelles Konzert ging zu Ende mit "Get Down Tonight" von KC & The Sunshine Band!

Big Star - ein Anachronismus in Reinkultur: Nicht nur, weil sie ihre musikalischen Wurzeln in den 60ern haben, nein, vor allem deshalb, weil es schlichtweg unglaublich ist, daß eine Band, die ihre letzte Platte 1974 aufgenommen hat und darüber hinaus nie auch nur in die Nähe einer Hitparade gekommen ist, immer noch Tausende von Fans so in ihren Bann ziehen kann. Eine Leistung, die den freudig erregten Gesichtern der Zuschauer auf dem Weg ins Freie nach zu urteilen viele Chilton und Co. nicht zugetraut hatten.

So verbittert er ansonsten auch sein mag und so wenig ihn seine glorreiche Geschichte im Allgemeinen interessiert: An diesem Abend in London schien Alex Chilton ziemlich stolz auf seine Vergangenheit zu sein. Mehr als zu Recht!

Text: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Carsten Wohlfeld-


 
 

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