Die nachfolgende Band, Mardi Gras. BB, war im Vorjahr, als Kernbesetzung schon mal dagewesen. Reinhard und Doc Wenz, der Frontmann der Blaskapelle, waren sich dabei auf platonisch-intime Weise dermaßen nähergekommen, dass es nun einen Nachschlag in voller Montur gab. Zwar hatte man im Vorfeld Bedenken gehegt, auch alle Bläser auf der Bühne unterbringen zu können, doch erstens war diese ja verbreitert worden und zweitens arrangierte man sich kuschelig. Auch wenn die Puristen wieder schnuteziehend das Weite suchten: Die New Orleans Blues Swing Rocken'n'Roll-Shuffle war zu diesem Zeitpunkt genau das richtige. Nicht so entspannt, um abzusacken, und nur so laut, dass ein verschnaufen möglich erschien. Jedenfalls aus Zuschauersicht: Doc Wenz und die seinen - darunter die "Hinterachse des Bösen" - gaben wie gewohnt alles. Wenn wir schon beim Thema Setlist sind: Hier gab es anstelle derselben Notenblätter auf dem Boden liegend, sieht man auch nicht alle Tage. Die Walkabouts waren extra vom Sponsoren Jack Wolfskin aus Seattle eingeflogen worden und hatten nur wenig Zeit gehabt, mit dem in Slovenien lebenden Chris Eckmann proben können. Das war unter anderem der Grund, warum das Set mit vielen simplen (aber effektiven) Rocknummern aus der ganzen Historie der Band angefüllt war. Neben den Tracks des aktuellen Albums "Acetylene" gab es so z.B. Schätzchen wie "Dead Man Rise" aus der Frühzeit oder "Good Luck Morning" von "Setting The Woods On Fire", der "anderen Rockscheibe" von Chris & Co. Überhaupt hatten die Walkabouts sicher die am sorgsamsten geplante (computergenerierte) Setlist des Abends. Diese wurde abgerundet durch das als Einleitung gespielte Wire-Cover "Reuters" und dem Go-Betweens-Stück "Apologies Accepted", einer Hommage an den kürzlich verstorbenen Grant McLennan. (Nikki Sudden, der dieses Jahr ebenfalls verstorben war und mit dem Schrein geehrt wurde, ging diesbezüglich leer aus.) Wissenswertes am Rande: Glenn Slater hatte tatsächlich einen kompletten Computer in seinem Silberkoffer auf der Bühne. "Ich arbeite nur mit Computern", erklärte er nachher, "Laptops sind einfach zu klein." Und eine neue Chris & Carla-Scheibe ist auch in Arbeit: Chris hat bereits 15 Songs fertig, aber Carla versprach, bis zu den Aufnahmen auch noch welche schreiben zu wollen.
Die Überraschung des Tages war sicherlich die junge Band Washington aus Norwegen. Hatte die erste Scheibe des Quartetts noch geklungen wie eine etwas trantütige Variante dessen, was Midnight Choir bislang so gemacht hatten, so überzeugte das Quartett hier mit einer lebhaften Show, bei der es auch mal ganz gut zur Sache gehen durfte, auch wenn viele Tracks eine typisch norwegische Melancholie-Note in sich bargen. "Halb-Country", nannten die Jungs das. Erst an diesem Abend wurde deutlich, warum Rembert die Band von der Bühne weg gesignt hatte: Dort gehört sie offensichtlich nämlich hin. Und schon lange nicht mehr hatte man eine so sympathische Band auf der Bühne des OBS erlebt. Die Jungs begrüßten das Publikum nicht nur mit "Was geht, Alter?", sondern freuten sich offensichtlich wirklich aufrichtig, hier sein zu dürfen. Das war jedenfalls ein sehr schöner Abschluss des längsten Festival-Tages. Auch, wenn es großteils wieder in Strömen geregnet hatte. Rembert hatte sich indes in dem ganzen Scharmützel eine Kriegsverletzung am Bein zugezogen und musste sich von Carla Torgerson notärztlich versorgen lassen. Aber egal, so lange die Vögel des Verderbens noch keine Nester gebaut hatten, war ja noch alles im Lot...
Der letzte Tag wurde wieder mal mit einer Lesung eröffnet. Nachdem man vor einigen Jahren mit Franz Dobler erste Erfahrungen gemacht hatte, durfte dieses Mal Stefan Maelk ran. Im Gegensatz zu Gerrit Stuntebeck konnte man ihn auch verstehen und das Publikum ließ sich so entspannt auf das Kommende einstimmen. Noch ein Gedanke: Immer, wenn beim OBS Lesungen angesetzt sind, versinkt das Festival im Regen. Sollte man mal drüber nachdenken. Kanada, so scheint es, ist zur Zeit eine einzige, große, musikalische Familie. Jeder scheint sich irgendwie zu kennen und in dieser und jener Form auch irgendwie miteinander zu tun zu haben. Dafür, dass die Musiker dabei zuweilen selbst den Überblick verlieren, gibt es erste Anzeichen: In der Band von Amy Millan und Jason Collett (bei der es sich um die kanadische Band Paso Mino handelt), spielte ein hochbegabter Drummer mit. Nichts gegen seine Kollegen, die beim OBS vertreten waren, aber dieser Mann verstand es, mit seinem vielseitigen Geklöppele die Songs regelrecht zu illustrieren. Auf die Frage, wer denn das sei, meinte Amy Millan in der Umbaupause, dass der Mann Gary heiße. Seinen Nachnamen kenne sie aber nicht und die anderen wohl auch nicht. (Investigativreporter Carsten Wohlfeld fand zwischenzeitlich heraus, dass der Mann Robbie Drake heißt). Sei's drum: Amy Millan legte als erster richtiger musikalischer Act des Festivals ein Set hin, das mit Beifall geradezu überschüttet wurde. "Nicht schlecht, für eine erste Band", raunte Rembert. Zu recht. Obwohl ihre Solo-Scheibe, "Honey From The Tombs", noch gar nicht erschienen ist, überzeugte die Sängerin der Stars und Broken Social Scene mit einer kunterbunten Mischung aus Folk, Country, Bluegrass, Pop und Rocksongs und einer bemerkenswert gelösten, heiteren, zugänglichen Art. Sehr schön, das.
Jason Collett haute dann - nahezu ohne Pause, denn die Band war ja dieselbe - in die gleiche Kerbe. Er verkörpert schließlich auch den klassischen Songwriter-Prototyp: Hager, schlaksig, kraushaarig ("That's a wind hair rockn'n'roll-thing"), gutgelaunt, spitzfindig, nachdenklich, verschmitzt usw. usw. Selbst wenn man den Mann nur von weitem sieht, würde man ihn sofort als Songwriter identifizieren. Collett hat das Business dermaßen im Blut, dass er vermutlich auch mit dem berühmten Telefonbuch-singen weiter käme. Tat er aber nicht: Seine Songs gehörten mit zu den besten der Veranstaltung. Außerdem hieß einer davon "I Bring The Sun" (was er dann auch tat), spielte seine Band Eminem beim Soundcheck, hatte er auch Bläser dabei und sein Keyboarder hatte seine Instrumente in einem alten Schulpult eingebaut. That's Rock'n'Roll! Beim dann folgenden Act, Jeb Loy Nichols, waren sich wirklich alle einig: Einen dermaßen in sich ruhenden, sympathischen Künstler hatte man auf der Bühne des OBS wohl noch nicht erlebt. Der ehemalige Boss der Fellow Travellers erzählte aus seinem abenteuerlichen Musikerleben und spielte dabei - begleitet nur von seinem Bassisten - seine entspannten, relaxten Folk-Soul-Songs, die - wie könnte es anders sein - von den Frauen in seinem Leben erzählten. Deren Credo machte er an einer amüsanten Geschichte fest, deren Fazit lautete: "Blame The Road" (and not yourself...) Bezeichnenderweise kommt Jeb dabei heutzutage fast ganz ohne Reggae aus - hat also insofern durchaus auch eine weitreichende musikalische Entwicklung durchgemacht.
Seachange kommen - wie Savoy Grand - aus Nottingham und feierten ihr OBS Debüt. Von ihrem neuen Mann, Neil Wells, der auch bei den Kings Of Thunder tätig ist, hatten sie schon viel vom OBS gehört und brannten darauf, hier spielen zu können. "Zu laut und zu englisch" kommentierte jemand in einem Forum den Auftritt der jungen Band. Das war natürlich Quatsch - denn jeder Neil Young-Epigone spielt für gewöhnlich lauter und die Musik von Seachange basiert eher auf amerikanischen Tugenden. Freilich kommt die Seachange-Musik eher vom Independent-Schrammelrock als von der Americana - und das scheint der Stein des Anstoßes gewesen zu sein. Lediglich die mit breitem Akzent vorgetragenen, wortreichen Texte von Sänger Daniel klangen wirklich englisch. Da Neil Wells auch wieder Trompete spielte, fiel die Band bei den Freunden der reinen Lehre aber eh durch. Dennoch: Es war ein klasse Auftritt, bei dem eigentlich alles stimmte. Sicherlich einer der besten der übrigens von Gaesteliste.de präsentierten Tour. Als Live Band machen Seachange durchaus was her. Und: Die Jungs sind nett, was in Festival-Situationen immer weiter hilft. Okkervil River aus Austin, Texas, haben sich im Laufe ihrer Karriere offensichtlich vom verschrobenen Schrammel-Outfit-Kleinwagen zur maßgeschneiderten Rock'n'Roll-Limousine gewandelt. Nicht nur, dass die Jungs beim OBS ein ziemliches Rock-Brett hinlegten, nein, sie verströmten auch eine deutlich spürbare Rockstar-Energie. Man hatte sich neben eigenen Roadies auch eigene Groupies mitgebracht, zechte im Anschluss mit den Besten um die Wette (wobei John Parker schlussendlich diesbezüglich nicht geschlagen werden konnte) und hatte - wie heutzutage modern und sehr zum Verdruss von aufrichtigen Rockliebhabern wie Herrn Edgar - auch wieder einen Trompeter im Gepäck. Das alles ging sogar so weit, dass Steve Wynn, der mittlerweile auch eingetroffen war, das Ausformulieren der vom WDR vorab geforderten Setlist unterbrach, um einmal nachzuschauen, wer denn da diesen effektiven Krach mache. Dem Publikum, jedenfalls gefiel es außerordentlich.